Radikale Ehrlichkeit: Vom Leben kosten

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Vor einigen Tagen wurde ich zu einer Familienaufstellung eingeladen. Für all jene, die sich darunter nichts oder nur wenig vorstellen können, es werden dabei problematische oder konfliktgeladene Situationen mit Hilfe von Freiwilligen nachgestellt, die vom Ausgangsproblem oft nur sehr wenig tatsächlich wissen, aber durch ihre intuitiven Reaktionen auf bestimmte Relationen der „aufgestellten“ Personen (Distanz, Handlungen, …) können sie den Problemstellern oft neue Wege aus verfahrenen Situationen aufzeigen. Es gibt neben rationell nachvollziehbaren auch verschiedenste Stufen mehr esoterisch angehauchter Erklärungen, warum es funktionieren soll, aber diese sollen uns hier nur am Rande interessieren.

Während die von der problemstellenden Person ausgewählten und in eine bestimmte Ausgangsposition gebrachten „Mitspieler“ ihrer intuitiven Reaktionen auf die Situation freien Lauf lassen, greift der Leiter der Aufstellung immer wieder regulierend und unterstützend in die Situation ein, stoppt einen Momentzustand, analysiert, stellt Fragen (etwa: „Wie fühlst du dich in dieser Situation?“) oder ermöglicht es den Beobachtern, selbst in bestimmte Rollen zu schlüpfen, ähnlich dem Prinzip des „Freeze“, das manche von euch vielleicht kennen.

Macht

Als bei jenem Treffen eine bereits über lange Zeit sehr verfahrene Situation nachgestellt und nach möglichen Lösungsalternativen gebeten wurde, tauschte ich eine der Mitspielerinnen aus, um eine Lösungsalternative zu spielen. Ohne dieses Phänomen auch nur irgendwie erklären zu wollen (weil ich den Grund unerheblich finde), fühlte ich mich in die Person, deren Rolle ich zu spielen hatte, hineinversetzt, fühlte ihre Angst in der betreffenden Situation so stark, dass meine Hände tatsächlich zu zittern begannen. Ich weiss nicht, ob die Person in der Situation tatsächlich Angst empfunden hätte, aber meine Vorstellungskraft liess mich so in die Situation eintauchen, dass mir ihre Furchtbarkeit und Machtlosigkeit spürbar wurde.

Als ich, völlig in meine Rolle „eingerollt“, mich der Person im Rollenspiel näherte, die jenen Menschen verkörperte, mit dem die verfahrene Situation erst entstanden war, wurde das Zittern kaum mehr erträglich. Ich fühlte mich machtlos vor diesem Menschen, der mich alleine durch seine Anwesenheit schon zum Erzittern brachte und es wohl, selbst wenn ich es kontrollieren hätte können, doch gewusst hätte. Und dann geschah etwas Seltsames:

Ich ging zu ihm und gab frei heraus zu, dass ich zitterte, wenn ich auf ihn zuging, dass es mir schwer fiel, dass ich trotzdem mit ihm reden wollte und dieses Zittern, diese Verwundbarkeit auf mich nehmen würde. Ich würde mich mit ihm, der mir stets die kalte Schulter gezeigt und mich durch seine unangreifbare Indifferenz beinahe zerstört hatte, zusammensetzen wollen und den ersten Schritt tun, in dem ich mich tatsächlich vor ihn hinsetzte. Er (die verkörperte Rolle) setzte sich zu mir und teilte mir mit, dass er nun zum ersten Mal Respekt vor mir hatte, dass diese Ehrlichkeit auch in der Verwundbarkeit ihm imponiere. Ich zitterte immer noch, aber nun, weil ich den massiven Durchbruch spüren konnte, der durch die offene Verwundbarkeit und damit meiner Machtposition erreicht worden war.

Klarheit

Eine weitere, weniger abstrakte oder vertreterhaft durchgespielte Situation stellte sich in einem Bewerbungsgespräch gestern dar. Es ging um eine Anstellung, bei der ich in der näheren Auswahl für einen Posten gekommen war, der mich aufgrund der Tätigkeit selbst ansprach. Ich hatte in meiner radikalen Ehrlichkeit erwähnt, dass ich im Frühjahr (oder spätestens Sommer) plane, für einige Monate zu verreisen, und dies stellte sich als Ausschlusskriterium heraus, falls ich diese Pläne wirklich mit hoher Wahrscheinlichkeit umzusetzen gedenke. Der Horizont für diesen Job waren um die fünf, mindestens drei, Jahre, für ein paar Monate hatte es von ihrer Seite wenig Sinn. Nach kurzem inneren Kampf mit mir selbst (ich wollte den Job, aber auch das Reisen nicht zu unterlassen) wurde mir klar, dass ich spätestens im Sommer für einige Monate verreisen würde und war fair genug, meinem potentiellen Vorgesetzten die Auswahl zu erleichtern.

Manche meiner Bekannten hatten mir geraten, meine Reisepläne einfach zu verschweigen, weil sie, wie sich tatsächlich gestern herausstellte, eine Jobsuche erschweren würden. Mein potentieller Vorgesetzter meinte gestern dazu, dass er mich vielleicht dann eingestellt hätte (es gäbe ja immer noch zwei Konkurrenz-Kandidaten), aber spätestens, wenn ich gehen, stinksauer sein würde, wenn ich es tatsächlich schon vor der Einstellung gewusst hätte. Wenn ich Jahre später bei einem anderen Bewerbungsgespräch wieder vor ihm sitzen würde, hätte ich mir dadurch wohl alle Chancen vertan, und da gerade der Sozialbereich durchaus vernetzt ist, vielleicht auch andere Wege verbaut.

Das Bewerbungsgespräch hat mir zwar keine Anstellung, wohl aber eine Klarheit verschafft, die mir davor noch gefehlt hat: es ist mir tatsächlich wichtig, mit unserem Verschwindi-Bus (vorausgesetzt, er läuft noch), im Frühjahr/Sommer zu verreisen und – wie der derzeitige Plan wäre – auf dem Weg diverse Alternativschulen und Sozialprojekte zu besuchen, um von ihnen zu lernen. Ich habe nun eine gewisse Klarheit, die mir bis vor kurzem noch gefehlt hat, gewonnen, weil ich nicht nur zu anderen, sondern auch mir selbst gegenüber ehrlich war. Ehrlichkeit hat auch etwas mit Akzeptieren können (nämlich sich selbst und sein Sein) zu tun, und diese Selbst-Akzeptanz etwas mit Macht.

Leben

Ehrlich zu sein, seine tatsächlichen Emotionen in jeder Situation zu spüren und auszudrücken, selbst wenn sie von der Umgebung negativ aufgefasst werden könnten, schafft nicht nur Klarheit über einen selbst (wer bin ich wirklich?) sondern auch in Beziehungen mit anderen. Sie ermöglicht ein tieferes Eintauchen in tatsächliches Sein und, in Beziehungen zu anderen gesprochen, auch tiefere Verbindungen. Ehrlichkeit polarisiert, und genau diese Polarisierung und ihre Kehrseite, die potentielle Abstossung von anderen, mag es sein, was sie oft so unbeliebt machen mag.

Ein guter Mensch sagte mir einst einen Satz, an den ich mich immer wieder erinnere und den ich euch mitgeben möchte. Sie sagte, ich sei ein Mensch, der den Kelch des Lebens zur Gänze leere, all die Trauer wie die Freude, die vernichtende Niederlage wie den triumphalen Sieg. Höflichkeit verbleibt an der Oberfläche des Kelches, nippt am Rand.

Ehrlichkeit jedoch bringt euch bis an den Grund.

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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