Wer sich wie ich eine Weile mit Psychologie beschäftigt, wird früher oder später über das Konzept der Projektionen gestoßen sein. Projektionen können Beziehungen gefährden oder sogar zerstören, und ganz allgemein zwischenmenschliche Beziehungen stark beeinträchtigen. Aber was ist eine Projektion überhaupt? Wie könnten wir eine Projektion definieren?
Hier meine eigene – möglichst alltagstaugliche – Definition der Projektion:
Eine (psychologische) Projektion hat an sich nichts mit einer psychischen Krankheit zu tun, sondern ist eine Folge eines völlig alltäglichen psychologischen Geschehens.
Wir alle tragen ein Abbild der Welt in uns, das wir uns im Laufe unseres Lebens aufgebaut haben – aus unseren eigenen Erfahrung und derer anderer, die wir uns angeeignet haben. Dieses Abbild der Welt hilft uns, uns in der Welt zu orientieren. Mit ihr können wir aufgrund dieser „inneren Karte“ anhand vergangener Erlebnisse ein Stück weit vorhersagen , was in der Zukunft wahrscheinlich passieren wird.
Im Normalfall ist diese „innere Karte“ offen für die Welt. Sie wird tagtäglich neu „aktualisiert“, wenn Vorhersagen die aufgrund der Karte getroffen worden sind, nicht zutreffen. Denn wer will sich schon auf eine Karte verlassen, die nicht die echte Realität abbildet?
Eine andere Strategie, diese Gleichheit von innerer und äußerer Realität abzubilden, ist es, die äußere Realität zu verändern. Auch das ist ein alltäglicher Aspekt unserer menschlichen Existenz: Wir mit-erschaffen diese Welt, im Zusammenspiel mit all den anderen Schöpfern und Schöpferinnen, die uns begegnen.
Die Wurzel einer psychologischen Projektion entsteht dort, wo beide Strategien versagen und jemand in eine tiefe emotionale Not gerät – auch traumatische Erfahrung genannt. Dann entsteht in der Landschaft der „inneren Karte“ plötzlich ein Gebiet, das von der Realität abgetrennt existiert. Eines, das nicht mehr durch neue Erfahrungen „aktualisiert“ werden kann. Wie ein Film, der abgespielt wird, ohne jede reale Interaktionsmöglichkeit.
Wenn Jemand nun in seinem tatsächlichen Erleben Dinge erlebt, die dem Anfang des „Films“ weit genug ähneln, dann kann es diesen Jemand gewissermaßen „in den Film hineinziehen“. Er selbst und seine Umwelt werden gewissermaßen zu Schauspielern in diesem Film, mit vorgegebenem Script.
Einem Film, der meistens nicht gut endet. Der das erlebte Trauma „nachspielt“, und immer wieder zurück auf den ursprünglich erlebten Schmerz wirft.
„Warum muss das immer mir passieren?“
Dies wäre ein Satz, der gut auf das Vorhandensein von Projektionen hinweisen könnte. Immer dann, wenn sich Geschichten zu wiederholen scheinen, liegt womöglich eine Traumatisierung und eine aufgrunddessen ausgelöste Projektion vor.
Aber wie kann es sein, dass man nicht nur selbst in seinem Film gefangen ist, sondern auch die Umwelt ihre jeweiligen Rollen mitspielt?
Wer schon einmal (oder öfter) Projektionen „live“ miterlebt hat, wird das Phänomen womöglich kennen: Der Film „stülpt“ sich dann gewissermaßen über die Wirklichkeit. Nicht nur über diejenige des Projizierenden. Sondern auch über die Wahrnehmung anderen Menschen, die die in dem Film vorgesehenen Rollen verkörpern sollen.
Reagiert jemand nicht seiner Rolle gemäß, bringt das denjenigen der gerade am Projizieren ist genau auf die jeweiligen Schmerzpunkte. Ohne es selbst zu merken (also unbewusst), wird der Projizierende dann oft enormen Druck auf den oder die AbweichlerInnen ausüben, sich eben doch der zugeschriebenen Rolle zu fügen.
Oft kommt es dann auch vor, dass man als Außenstehender, dem eine Rolle gewissermaßen „zugewiesen“ worden ist, vor absurd anmutende Situationen gestellt wird. Entscheidungen, bei denen man nicht richtig entscheiden kann, egal wie man sich entscheidet. Außer man schafft es, sich aus dem Gefängnis der vermeintlich einzig möglichen Entscheidungs-Optionen zu befreien, und wirklich unerwartet zu reagieren.
Aber dies ist eine schwierige Kunst. Um sie zu lernen, ist es hilfreich zu verstehen, wie Projektionen psychologisch wirken. Wie man sie erkennen kann und was man tun kann, wenn man entweder selbst in einer gefangen ist oder bemerkt, dass es jemand anderem passiert.
Ist man einmal in einer Projektion gefangen, kann es sehr schwierig sein, selbst wieder herauszufinden. Auch Hilfe von außen ist nicht leicht zu bekommen, weil die Projektion ja schon in ihrer Definition eine Abtrennung von diesem Außen in sich trägt. Selbst wenn jemand helfen wollte: Er wird nicht als hilfreich wahrgenommen, oder die Hilfe aus der bewussten Wahrnehmung ausgeblendet werden.
Aber es gibt einen hilfreichen Trick, wie man selbst erkennen kann, dass man sich mit hoher Wahrscheinlichkeit gerade inmitten einer Projektion befindet. Man erkennt die Projektion am allzu sicheren Gefühl der Alternativlosigkeit. Wenn jemand 100%ig überzeugt ist, dass sich eine Situation nur in genau eine Richtung entwickeln kann, dann verrät sich darin die Projektion. Denn die einzige Erklärung, warum etwas alternativlos sein kann, ist jene, dass sich die Situation bereits entschieden hat, also in der Vergangenheit liegt.
So kann man erkennen, dass man mit der Aufmerksamkeit gerade in der Vergangenheit gefangen ist, nicht in der aktuellen Realität. Und weiß dann zum Beispiel, dass man in dieser Verfassung am besten gerade keine weitreichenden Entscheidungen treffen sollte.
Wenn der Geist in der Vergangenheit gefangen ist, ist es nicht einfach, ins Jetzt zurück zu kehren. Aber dein Körper ist im Jetzt – was auch der Grund sein kann, dass du ihn während du in einer Projektion feststeckst meist nicht sehr gut spüren kannst. Dies ist übrigens ein weiteres Anzeichen, das auf eine Projektion hinweisen könnte.
Konzentriere dich daher auf deinen Körper. Versuche, ihn zu erspüren, seine Atmung, den Herzschlag, ihn bewusst zu bewegen. Etwas in deinem näheren Umfeld zu verändern, z.B. ein Glas Wasser herablassen, kleine Dinge. Baue dir einen Weg zurück zur Wahrnehmung der Realität im Jetzt und zu deiner Wirkmächtigkeit, diese Realität zu verändern.
Und dann, wenn du das Gefühl hast dich wieder gut zu spüren, versuche herauszufinden, was du in den Minuten/Stunden davor womöglich getan und gesagt hast. Es kann sein, dass du Antworten bekommst, die du nicht glauben oder akzeptieren willst, weil du glaubst, du könntest nie so reagieren. Es kann sein, dass dich die Antworten erschrecken.
Aber es ist wichtig, weil du nur so verhindern kannst, dass Menschen das, was du in der Projektion gefangen gesagt oder getan hast, als Anlass nehmen, ihrerseits sehr unangenehm zu reagieren. Es kann sein, dass es angebracht ist, dich zu entschuldigen, dich zu erklären, von der Erfahrung zu erzählen, die ursächlich für dein Verhalten verantwortlich sein könnte.
Menschen können sehr empathiefähig sein, sobald sie erkennen, warum jemand anderer so reagiert. Aber diese Information brauchen sie von dir.
Sobald du wieder im Jetzt bist: Versuche herauszufinden, welche Muster dich an jene Orte deiner „inneren Landkarte“ katapultieren können, von denen aus du nicht mehr so einfach ins Jetzt zurückfinden kannst.
Sobald du weißt, wie die Projektionen ausgelöst werden, kannst du versuchen, wieder eine Verbindung zwischen diesen isolierten Orten deiner inneren Landkarte und dem Rest deiner Persönlichkeit herzustellen.
Dazu brauchst du Aufmerksamkeit, Raum (zeitlich und räumlich) und manchmal vielleicht auch jemanden, der dich durch die notwendigen Prozesse führen kann.
Aber diese Investitionen an Zeit, Aufmerksameit und bisweilen auch Geld sind womöglich diejenigen, die dich auf deinem Lebensweg am meisten weiterbringen werden. Ansonsten kann es sein, dass du einen Gutteil deiner Lebenszeit damit verbringst, dich in Kreisen zu bewegen.
Als erstes ist es wichtig, von dieser Möglichkeit zu wissen, dann, sie zu erkennen.
Dazu gibt es zumindest drei Hinweise, die hilfreich sein können:
Vielleicht ist dir der Begriff Double-Bind schonmal untergekommen? Er beschreibt – frei interpretiert – eine Situation, in der jede Handlungs-Option, die dir auf den ersten Blick übrig bleibt, für den Projizierenden falsch ist.
Eltern von pubertierenden Kindern kennen solche Situationen womöglich zur Genüge: Streits entstehen, die logisch überhaupt nicht mehr nachvollziehbar sind. Deren einziger Zweck offensichtlich darin besteht, einen Konflikt zu produzieren, und dazu scheint jedes Mittel recht.
Das erzeugt auch den Schmerz, der jeder größeren Entwicklung eigen ist, und in der Pubertät geht es viel um Entwicklung. Im Rahmen der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen sind solche Situationen auch beinahe unausweichlich.
Aber wenn sie unter Erwachsenen auftreten, ist die Möglichkeit einer Projektion nicht auszuschließen. Umso besser ist es, wenn man sie richtig erkennt.
Ist jemand anderer gerade in einer Projektion gefangen, gibt es mehrere Möglichkeiten zu reagieren:
Die meisten Projektionen behandeln Trennungs-Erfahrungen, und Erfahrungen, dass man so wie man ist nicht anerkannt und geliebt werden kann.
Vermag es jemand, zu bleiben, ohne das vorgegebene Skript nachzuspielen, wird der Projizierende mit dem Schmerz in Verbindung gebracht, der den Bereich des Selbst, indem die Projektion abgespeichert ist, vom Rest abtrennt.
Als derjenige der bleibt wird man dabei häufig zur Projektionsfläche dieses Schmerzes, und des Schmerzes aller Erfahrungen, die die Folge jenes ersten Schmerzes und der Abtrennung waren.
Diesen Schmerz gilt es auszuhalten, und zu bleiben. Dann ist es möglich, dass eine Re-Integration der abgetrennten Selbst-Anteile stattfinden kann. Der abgetrennte Bereich der inneren Landkarte wird wieder mit dem Rest verbunden.
Aber diese Option hat ihre Grenzen. Es gibt Fälle und Konstellationen, in denen Profis gefragt sind.
Der konstruktive Umgang mit Projektionen bei Traumatas ist eine Kunst, vor allem wenn es um sehr schwere Traumatisierungen geht. Es gibt Grenzen dessen, was innerhalb einer Liebes-Beziehung bzw. Familie sinnvoll ist, selbst aufzulösen. Manchmal kann es auch besser sein, dafür ausgebildete und fähige Profis aufzusuchen.
Es gibt aber auch alltägliche Situationen, in Freundschaften, Familien oder sonstigen Beziehungen, in denen abgeschwächte Formen jener Projektionen für Schwierigkeiten sorgen können. Wenn diese auftreten, ist es wichtig, das Muster von Projektionen erkennen zu können, und einen guten Umgang damit zu finden.
Vor allem aber zu wissen, dass Aussagen und Handlungen der Person, die gerade in einer Projektion steckt, nicht 100%ig ernstzunehmen sind. Weder der Heiratsantrag noch die Scheidungsandrohung. Man sollte in so einem Zustand niemals weitreichende Entscheidungen treffen, und auch andere die gerade in einer Projektion stecken nach Möglichkeit davon abhalten, dies zu tun.
Manchmal „rutschen“ Menschen gewissermaßen in ihren „eigenen Film“ und kommen nicht mehr raus. Das bedeutet nicht, dass dieser Mensch notwendigerweise „verrückt“ ist, sondern kommt (in abgeschwächter Form) sogar recht häufig vor.
Wer weiß, was dabei passiert und warum, kann konstruktiver damit umgehen. Und wird bisweilen erstaunliche Erfahrungen machen können.
Ich hoffe, dieser Artikel hat seinen Teil dazu beigetragen 🙂