Problemlösen, Energieverluste und Kapazität

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Gestern schrieb ich zwei Stunden an einem neuen Artikel über die Wichtigkeit, alle Probleme richtig in die Bereiche „kontrollierbar“, „beeinflussbar“ bzw. „nicht beeinflussbar“ einzuordnen – nur um dann am Ende festzustellen, dass es eine Möglichkeit gibt, den dahinterliegenden Gedanken noch viel simpler darzustellen. Und deshalb folgt nun mein erstes original selbst erfundenes mathematisches Modell:

beeinflussbardiagramm
Der Energieaufwand ist abhängig von der relativen Beeinflussbarkeit der Situation.

Mit einfachen Worten erklärt geht es darum, darzustellen, dass der Energieaufwand, der eingesetzt werden muss, um ein Ziel zu erreichen, damit zusammenhängt, inwieweit das Problem von uns überhaupt beeinflussbar ist. Je weniger beeinflussbar ein Problem für uns ist, desto mehr Energie müssen wir folglich aufwenden, es zu lösen. Das klingt jetzt vermutlich auf den ersten Blick noch nicht sonderlich aufregend. Interessant wird es jedoch, wenn man dieses Schema mit dem Konzept der Kapazität verknüpft, über die ich vor einigen Wochen geschrieben habe. Die Kapazität einer Person, die Energie, die diese am Tag aufwenden kann, ist demnach zwar von Person zu Person verschieden, auf jeden Fall aber begrenzt. Wenn wir nun jedoch davon ausgehen (und das obige Diagramm will genau jenes aussagen), dass es einen enormen Unterschied machen kann, wie und zur Lösung welchen Problems wir diese Energie einsetzen, wird die Sache interessanter. Dann kann es uns nämlich auch bei der Entscheidung helfen, mit welchen Problemen wir uns wohl am besten beschäftigen sollten – und welche wir als (vorläufig) nicht beeinflussbar akzeptieren sollten.

Konsequenz 1: Alles, was ich alleine entscheiden kann, ist energieeffizient

Eine Konsequenz des Modells ist es, dass alles, was mit meinem Körper und meinem Handeln zu tun hat, in Wahrheit mit sehr wenig Energieaufwand verbunden ist. Ob ich mich strecken will, ob ich laufen gehen will, ob ich mir etwas Schönes zum Essen machen will – dazu ist nicht viel mehr Energieaufwand meinerseits nötig als die Aktivierungsenergie, die Trägheit zu überwinden, wie wir es auch aus der Physik (Trägheitsgesetz) kennen. Es ist im Vergleich sehr einfach, Probleme zu lösen, die nur mit dem eigenen Verhalten zu tun haben. Als jemand, der kaum Alkohol trinkt, nicht raucht und noch nie Drogen konsumiert hat, kann ich nur schwer einschätzen, wie es sich mit Sucht verhält – dies mag eine Ausnahme darstellen. Aber auch in jenen Fällen wird es vom Energieaufwand her leichter sein, selbst mit dem Rauchen aufzuhören als auch nur einen anderen Menschen dazu zu bringen.

Eine Konsequenz des Diagrammes ist möglicherweise nicht so offensichtlich – es gilt auch für andere Menschen. Wenn es für uns schwieriger ist, andere Menschen zu etwas zu bringen als uns selbst, gilt das auch in die andere Richtung. Das bedeutet, dass es für mich immer leichter sein wird, mein „Nein“ zu halten, als es für den anderen sein wird, mir sein „Tu X für mich“ aufzudrücken. Über eine Bekannte habe ich erfahren, dass einer ehemaligen Studien-Kollegin von ihrem Direktor vorgeschrieben wird, welche Buchseite sie an welchem Tag mit den Kindern in der Schule durchmachen soll, und sie leidet sehr darunter. Ihr ist offensichtlich (noch) nicht bewusst, wie einfach sie dazu „Nein“ sagen könnte. Solange sie ihre vom Gesetz vorgeschriebene Arbeit macht (wie auch immer, das steht ihr ja frei), hat der Direktor keine Handhabe gegen sie. Wenn er sie trotzdem dazu zwingen will, muss er erheblich mehr Energie aufwenden als sie es muss. Wir sind schon alleine aus dem Grund des unterschiedlichen Energieaufwands meist um einiges freier, als uns bewusst ist.

Konsequenz 2: Meinungen zeitweilig als Fakten zu akzeptieren, kann Energie sparen helfen

Für die alltäglicheren Probleme wird es sinnvoll sein, gewisse Tatsachen als gegeben anzunehmen, die gar nicht so gegeben und fest sind, weil sie historisch gewachsen sind, von Menschen erschaffen wurden und wiederum von ihnen verändert werden können. Aber indem man gewisse Bedingungen als Fakten denkt, schränkt sich der die Such-Richtung bei der Lösungssuche entsprechend ein, und es wird weniger Energie verschwendet, Lösungen in Bereichen zu suchen, die nur schwer beeinflussbar sind. Um eine Banane zu essen, kann ich natürlich auch eine Bananenpalme pflanzen und warten, bis die ersten Bananen reif sind, oder selbst nach Brasilien fliegen und eine pflücken, oder einen Vertrieb gründen und mit Plantagen Verträge abschließen, wenn ich mit dem Finanzsystem nicht einverstanden bin. Aber um meine Banane zu essen, wird es die einfachste Lösung sein, in einen Supermarkt zu marschieren und eine zu kaufen. Für komplexe Probleme gilt genau die andere Richtung: das, was als Fakten wahrgenommen wurde, so lange zu hinterfragen, bis sich Lösungen abzeichnen, auch wenn dazu diese Fakten verändert werden müssten. Dann wäre das nächste Problem vielleicht, wie dies am energieeffizientesten gelingen kann.

Und selbst diese sehr komplexen Probleme lösen sich erstaunlich oft am effizientesten dadurch, dass man sich hauptsächlich auf sein eigenes Verhalten konzentriert und darauf vertraut, dass der Vorführeffekt sehr wirksam ist. Es ist, um Veränderungen an anderen Menschen auszulösen, oft am effektivsten, diese Veränderung für sich selbst zu schaffen. Dazu ist meistens nur ein vergleichsweise sehr geringer Energieaufwand notwendig.

Es ist erstaunlich, wie viele Menschen im Alltag versuchen, ihre Probleme zu lösen, indem sie an Hebeln drehen wollen, die nur bedingt von ihnen beeinflussbar sind. Da sind Menschen unzufrieden mit dem Kapitalismus und wie er funktioniert, weil sie in diesem System zu wenig Geld verdienen, und überlegen sich eine gesamtgesellschaftliche Lösung für das Problem, gründen oder unterstützen Bewegungen und Parteien, um das Bewusstsein in der Bevölkerung zu erweitern, auf das das System geändert werde – und doch wären viele von ihnen wohl schon zufrieden, wenn sie ein wenig mehr Geld zur Verfügung hätten, oder weniger verbrauchen würden. Dass sie die letzteren Ziele durch ihr eigenes Handeln durchaus – und mit viel weniger Energieaufwand – erreichen könnten, ist ihnen dabei möglicherweise gar nicht bewusst. Ich will nicht behaupten, dass es sinnlos sei, auch gesamtgesellschaftliche Lösungen zu entwickeln. Aber dieses Problem ist ein derart komplexes, der Energie-Schwund dabei so massiv, dass es nur sehr wenige Menschen gibt, für die es Sinn macht, dass sie sich voll in dieses Problem stürzen. Für andere bleibt möglicherweise nach dieser Bündelung der Energie in ein Energieverlust-reiches Problem nicht mehr genügend Energie-Kapazität übrig, um ihre ganz alltäglichen Probleme anzugehen.

Konsequenz 3: Die beschränkte persönliche Kapazität macht eine Auswahl notwendig

Ich bin der Ansicht, dass es rein theoretisch einem jeden von uns möglich wäre, für jedes Problem der Welt eine Lösung zu finden, aber da wir unterschiedliche Kapazitäten aufweisen und unterschiedliche Probleme daher für uns unterschiedlich verlustbehaftet wären, wird es in vielen Fällen Sinn machen, anhand unserer beschränkten Kapazität die Probleme zu wählen, die a) für uns wahrscheinlich lösbar sind, b) für uns wichtig sind und c) in ihrem gesamten Energieaufwand unsere Kapazität nicht dauerhaft massiv übersteigen. Beispielsweise könnte ich wohl auch selbst lernen, meinen alten VW-Bus selbst zu reparieren. Aber ich würde erheblich länger brauchen als jemand, der davon schon Ahnung hat, ich würde vielleicht zusätzliches Werkzeug oder sogar eine Hebebühne benötigen – was meine Kapazitäten sowohl finanziell wie auch zeitlich übersteigen würde. Deswegen ist es in diesem Fall sinnvoller, einen Mechaniker meines Vertrauens anzurufen und meine Energie für andere Probleme aufzuwenden.

Es gibt eine Art von Gesamt-Energiehaushalt, den ich indirekt beeinflussen kann, indem ich gut auf meinen Körper schaue, ihm den Schlaf gönne, den er braucht, mich viel bewege, mich gut ernähre. Ein gutes soziales Netz kann sogar helfen, für eine gewisse Zeit weit über die eigenen Energiereserven hinauszugehen. Ausgehend von dieser Gesamt-Kapazität und der voraussichtlichen Beeinflussbarkeit der sich mir anbietenden Probleme kann ich dann entscheiden, mit welchen ich mich jeweils beschäftigen möchte. Möglicherweise interessiere ich mich für viele einfachere Probleme, oder nur für ein großes, das mich wohl noch viele Jahre beschäftigen wird, wie es wohl für etwa die Gebrüder Wright die Frage war, wie ein Mensch fliegen können würde. Um für diese Frage möglichst viel Kapazität freizuschaufeln, haben die Brüder wahrscheinlich – bewusst oder unbewusst – gelernt, alle nicht damit verbundenen Probleme möglichst energieeffizient zu lösen (oder diese Probleme an andere Menschen ausgelagert, die das besser können).

Niklas

P.S.: Aus aktuellem politischen Anlass noch eine Anwendung aufs Flüchtlingsthema. Man kann natürlich die großen Migrationsströme als sehr beeinflussbar betrachten, indem man beispielsweise die Sozialleistungen in Österreich kürzt (um nicht mehr so attraktiv zu erscheinen) oder Grenzzäune aufzieht. Und in gewisser Hinsicht ist das Aufziehen von Grenzzäunen auch eine Möglichkeit, mehr in Richtung (vermeintliche) Kontrollierbarkeit zu gehen. Das Problem dabei ist, dass das grundsätzliche Problem damit nicht gelöst wird, die Grenzen zuzumachen (mal abgesehen von den Nebenwirkungen für Wirtschaft und auch Personenverkehr, …). Die Migrationsströme werden unabhängig davon weitergehen, und was machen wir, wenn 10.000 Menschen dann vor dem Stacheldraht stehen, sich zusammenrotten und trotzdem versuchen, durchzukommen? Sie mit Wasserwerfern zurückhalten, mit Tränengas? Für wie lange? Oder wollen wir sie (wie ich es vor einigen Tagen beim Besuch bei einer Bekannten von ihrem Freund gehört habe) „einfach alle daschiassn“? Ist das die einzige langfristige Lösung, die uns einfällt? Wenn wir allerdings die Migrationsbewegung als gegeben annehmen (vorläufig nicht beeinflussbar), können wir die Energie, die derzeit damit gebunden ist, die Bewegung wegzudenken oder wegzusperren, und überlegen, wie wir mit dieser Begebenheit konstruktiv umgehen können. Was muss an Infrastruktur geschaffen werden, um das Problem konstruktiv zu lösen? Welche sozialen Maßnahmen müssen geschaffen werden? Welche internationalen Verträge (die ohnehin meistens lange brauchen, bis sie ratifiziert und umgesetzt werden, weswegen es Sinn machen wird, sie möglichst bald anzudenken)?

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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