In einer Fortbildung zum Thema Spiel- und Bewegungsmaterialien nach Emmi Pikler und Elfriede Hengstenberg, die ich heute besucht habe, habe ich mich zum ersten Mal wirklich eingehend mit den Anfängen des menschlichen Lebens beschäftigt, und welche Auswirkungen die ersten Jahre eines Kindes auf meine späteren „Schulkinder“ eigentlich haben kann.
In der Fortbildung ging es hauptsächlich um körperliche Fehlhaltungen des Kleinkindes, ihre Ursachen und Folgen, also etwa ein Hohlkreuz, X- oder O-Beine und Ähnliches. Als jemand, der sich seine rechte Kniescheibe bereits mehrmals ausgerenkt hat und mit seinen knapp 26 Jahren immer wieder mit Verspannungen im unteren Rücken zu kämpfen hat, ein durchaus interessantes Thema.
So war eines der behandelten Grundprinzipien ein sehr einfaches und nachvollziehbares, das mir auch im Tai-Chi-Training mehrfach begegnet ist: Wenn die Basis nicht trägt, muss an anderer Stelle ein Ausgleich geschaffen werden. So führt etwa ein leicht nach innen geknicktes Fußgelenk demnach zu X-Beinen und – wie in meinem Fall – zu einer erhöhten Gefährdung der entsprechenden Verletzungen. Die inneren Sehnen werden dabei überdehnt und können Belastungen weniger stark standhalten, die äußeren verkürzen sich, so dass die X-Beine dauerhaft werden. Diese führen jedoch nicht nur zu ungeplanten Belastungen der Kniegelenke, sondern möglicherweise auch zu anderen Beckenstellungen, die wiederum problematische Stellungen der Wirbelsäule nach sich zieht. Die Folgen können auch immer wieder auftretende Atembeschwerden, Verdauungsprobleme und Ähnliches sein. Ich bin kein Arzt und will auch nicht vorgeben, einer zu sein, aber die Erklärungen der Vortragenden klangen für mich sehr nachvollziehbar.
Warum entstehen Haltungsschäden?
Spannend wurde es dann auch bei der Frage, wie solche problematischen Haltungen eigentlich entstehen würden. Der Maxi-Cosy, die bekannte Trage-Vorrichtung für Kleinkinder, wurde beispielsweise genannt, oder auch zahlreiche Kinderwägen. Die Kinder würden über sehr lange Zeiträume in Positionen sitzen, an denen sie selbst nur wenig ändern könnten, und die aufgrund der Erhöhung nach vorne die Beine zu angewinkelter Position verdammt. Die Folge? Verkürzung der hinteren Sehnen in den Beinen, die Hüfte wird im Stehen entsprechend nach hinten gezogen – problematisch für die Wirbelsäulenhaltung. Ein Kind sollte – so die Vortragende – in der Lage sein, mit ausgestreckten Beinen bequem sitzen zu können. Ich habe das zuhause ausprobiert. Ich kann mit ausgestreckten Beinen sitzen, ohne mich abstützen zu müssen, aber sehr bequem fühlt es sich nicht an. Ich war jedoch auch als Kind viel im Maxi-Cosy…
Als eine weitere häufige Quelle für Haltungsschäden nannte die Vortragende die häufige Gewohnheit, mit Kindern, die mehr oder weniger stehen können, „laufen zu üben“, in dem sie an der Hand gestützt werden. Damit bewegt sich das Kind auf eine Art und Weise fort, für die Teile seiner Muskulatur bzw. Koordination noch gar nicht bereit sind. Es „kann gehen“, doch der dafür noch nicht völlig bereite Körper muss die fehlende Basis wiederum an anderer Stelle kompensieren, etwa indem er sich bestimmte ausgleichende Bewegungsmuster antrainiert – die dann zu eingeschliffenen Fehlhaltungen werden.
Wie richtig machen?
Wenn man vieles falsch machen kann, wie kann man vieles richtig machen? Laut der Vortragenden würde die beste Begleitungs-Haltung für Eltern diejenige sein, dem Kind ein möglichst freies Bewegen zu ermöglichen. Ein Kind wisse selbst sehr genau, wann es bereits erlernte Bewegungsmuster verwende und wann es sich an neue, potentiell gefährlichere Manöver wagt, und die kindeseigene Angst würde es vor den meisten „großen“ Gefahren schützen. Ein Kind, das mit seiner Umwelt experimentiert, wird immer wieder Fehleinschätzungen tätigen, sich vielleicht auch einmal blaue Flecken holen, aber nach einem Zitat der Vortragenden hat jedes Kind „das Recht auf blaue Flecken“, weil jene kleineren Rückschläge notwendige Lernschritte sind, um größere Unfälle zu vermeiden. Das Kind, das gelernt hat, von kleinen Höhen zu fallen, wird sich wohl tatsächlich auch im Fall von größeren Höhen besser abrollen können.
Gleichzeitig trat die Vortragende auch für die Wiedereinführung der mittlerweile oft als „Kindsgefängnisse“ verdammten Gitter-„Käfige“ ein, weil sie relativ gesehen ein relativ hohes Maß an echtem Freiraum für das Kind bedeuten würden. Sie beschrieb, wie Eltern oft ständig die Befürchtung hätten, das Kind würde sich verletzen, wenn es frei im Haus herumlaufe, und die Kinder kaum bei sich selbst sein ließen, während sie innerhalb jener abgesteckten Freiräume tatsächlich über ihre eigenen Körper und ihre Aktivitäten bestimmen können würden. Und zwar ohne Angst haben zu müssen, ständig von Erwachsenen aus ihrem Tun „herausgerissen“ zu werden. Durch die Gitter könnten sie die Geschehnisse der Außenwelt gut beobachten, und das Gitter selbst wäre eine wertvolle Möglichkeit, sich zu üben, sich daran hochzuziehen.
Haltungs-Schäden ausgleichen
Interessanterweise hilft es meistens nicht sonderlich viel, wenn einem Kind (oder Erwachsenen) mit Haltungsschäden gesagt wird, es solle doch den Rücken gerader strecken, die Hüfte kippen, oder die Füße weniger nach innen drehen. Ich kann mich noch gut erinnern, dass mir als Kleinkind ständig gesagt wurde, ich solle doch meine Füße nicht so nach außen drehen „wie eine Ente“. Abgesehen davon, dass ich mich damals nicht sonderlich „richtig“ gefühlt habe, hat es offensichtlich nicht allzu viel genützt, meine leichten X-Beine zu verhindern, wie meine Knieverletzungen belegen.
Wer sich jedoch an Balance-Übungen wagt und sie auch häufig wiederholt, der fängt irgendwann an, seine Fehlhaltungen automatisch als die Grenzen seiner Möglichkeiten zu spüren, stößt immer wieder an diese Grenzen und kann sie damit bei genügend häufiger Wiederholung auch überwinden. Die gekürzten Bänder verlängern sich, die überdehnten Bänder gehen zurück auf die ursprüngliche Länge. All dies erscheint mir ziemlich nachvollziehbar.
Im Zug zurück von Neumünster nach Kiel saß ich in einem Großraumabteil neben einer noch sehr jung aussehenden Mutter, die mit der einen Hand einen Kinderwagen festhielt, während sie mit der anderen etwas auf ihrem Handy herumtippte. Der kleine Junge in dem Kinderwagen wechselte alle paar Sekunden zwischen Quengeln und Schreien, woraufhin die Mutter wiederholt eine Art Spieluhr zum Spielen brachte. Geprägt von meiner Fortbildung betrachtete ich das Kind daraufhin genau und sah, wie beengt es sich in seinem Kinderwagen eigentlich fühlen musste, noch zusätzlich umwickelt von einem dicken Fell. Das einzige, was es gerade noch ein wenig bewegen konnte, waren die Hände. Unerfahren, wie ich in Wahrheit in Bezug auf Kleinkinder bin, fühlte ich mich nicht berechtigt, etwas zu sagen.
Doch sonderlich glücklich sah das Kind, das in dem Kinderwagen gerade einmal seine Hände bewegen konnte, wahrlich nicht aus.
Niklas