Gesetzmäßigkeit: Die wichtigste äußere Grundlage für selbstverantwortliches Handeln

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Was brauche ich, um Verantwortung für mein Handeln übernehmen zu können? Neben einigen inneren Voraussetzungen (die geistige Fähigkeit, aus mehreren Möglichkeiten eine auszuwählen beispielsweise, oder die Folgen meiner Handlungen abschätzen zu können) gibt es eine Voraussetzung in unserem Umfeld, ohne die der Versuch, verantwortlich zu handeln, völlig sinnlos wäre: Vorhersehbarkeit.

All unser geplantes Handeln basiert auf der Voraussetzung, dass unsere Umwelt gewissen Gesetzmäßigkeiten folgt. Wir legen uns beruhigt schlafen, weil wir davon ausgehen, dass wir am nächsten Tag wieder aufwachen werden. Wir essen eine Banane, weil wir davon ausgehen, dass sie für uns nicht giftig ist. Wir stellen uns bei Regen unter, weil wir davon ausgehen, dass der Regen von oben kommt und uns ein Unterstand hilft, nicht nass zu werden. Wir gehen davon aus, dass Nässe unserem Organismus schaden könnte, deswegen stellen wir uns unter. Um unser Überleben zu sichern, haben wir eine Vielzahl an Gesetzmäßigkeiten erlernt, die uns dabei helfen, nicht nur eine Augenblickliche Gefahr zu vermeiden, sondern auch zukünftigen Schwierigkeiten vorzubeugen.

Der größte Teil der Wissenschaft, der Suche nach der „Wahrheit“ basiert wohl auf dem Bedürfnis, treffendere Vorhersagen treffen zu können, die uns bei der Gestaltung unseres Lebens behilflich sein können. Denn Irr-glauben, das heißt das Treffen von Entscheidungen, die auf unrichtigen Vorhersagen basieren, kann für uns problematische Folgen haben. Wenn wir beispielsweise davon ausgehen, dass der Regen eine Strafe Gottes ist, die uns ohnehin treffen wird, macht es wenig Sinn, sich unterzustellen. Wenn es allerdings wahrscheinlich ist, dass der Regen immer von oben kommt (oder, bei viel Wind, von der Seite), wird es möglich, sich vor ihm zu schützen, zu handeln, anstatt ausgeliefert zu sein. Auch mit dem Wissen, dass der Regen von oben kommt, kann man sich immer noch der Willkür ausgeliefert fühlen – aber nun besteht die theoretische Möglichkeit, sich anders zu entscheiden, und die Erfahrung, dass dieses Handeln andere, für mich vorteilhaftere Konsequenzen haben kann. Die Möglichkeit, Verantwortung für mich selbst zu übernehmen, ist geboren.

Gesetze und Normen

Mit Menschen ist die ganze Sache nun ein wenig komplizierter, weil Menschen (oder zumindest ist das meine Hoffnung) in ihren Entscheidungen eine Auswahl treffen – und damit nicht von vornherein vorhersehbar entscheiden. Im Grunde kann ein Passant, der mir auf der Straße begegnet, mich freundlich grüßen, aber auch ebenso ein Messer ziehen und mich abstechen – das gesamte Spektrum des möglichen menschlichen Verhaltens ist ziemlich groß, und gehe ich bei jedem Menschen, der mir begegnet, von diesem gesamten Spektrum aus, ist es eigentlich unmöglich, für mich selbst verantwortliche Entscheidungen zu treffen, solange ich nicht weiß, wie sich die Menschen um mich verhalten werden. Sie sind dann wie ein Regentropfen, der von allen Seiten kommen kann – oder auch gar nicht.

Weil dieser Zustand zu sehr impraktikablen Konsequenzen bis zur Handlungsunfähigkeit führt, haben Menschen irgendwann begonnen, sich selbst Gesetzen zu unterwerfen, die ihr mögliches Handlungsspektrum begrenzen. Für einen Passanten auf der Straße, mit dem ich sonst nicht viel zu tun habe, besteht die Begrenzung im Regelfall aus jenen Vorschriften, die verhindern sollen, dass wir uns Schaden zufügen. Da gibt es einerseits explizit ausformulierte Gesetze, andererseits auch implizit gelebte Normen, die dies ermöglichen, was jeweils eigene Vor- und Nachteile hat. Gesetze sind hierarchisch organisiert und basieren auf der Staatsmacht in Form des Militärs bzw. der Polizei, um sie durchzusetzen, während Normen eher auf der Macht der sozialen Ächtung basieren – wer sich außerhalb der Normen bewegt, wird eben als seltsam betrachtet. Soziale Normen arbeiten auf der Beziehungsebene: wenn du das nicht tust, mag dich keiner mehr (und dann entziehen wir dir Unterstützung), während Gesetze auf einer entpersönlichten, sachlichen Ebene funktionieren. Gesetze stellen meist eher den groben Rahmen dar, um jeden einzelnen zu schützen, während Normen (meist) innerhalb der Gesetze als zusätzliche Kontrollmechanismen funktionieren.

Normen funktionieren auf der Beziehungsebene

Die meisten Menschen, die es irgendwann in ihrem Leben gewagt haben, in irgendeiner Form „anders“ zu sein, haben wohl die die Auswirkungen sozialer Normen zu spüren bekommen. Interessanterweise hat dieses Anders-Sein (zumindest meiner Erfahrung nach) nicht immer nur negative Auswirkungen. Als ich mir (zugegebenermaßen ursprünglich aus Faulheit) erstmals meine Haar lang wachsen ließ, reagierten vor allem meine Großeltern sehr kritisch und wollten mich dazu bringen, sie wieder kurz zu schneiden. Andererseits machte ich jedoch auch die Erfahrung, dass viele Fremde mich auf der Straße oder beim Fortgehen ansprachen, weil sie begeistert von meinen Haaren waren und sie angreifen wollten – so habe ich viele Menschen kennengelernt, die ich sonst wohl nie kennengelernt hätte. Ich glaube, alles, was sozialen Normen widerspricht, polarisiert, und zwar auf der Beziehungsebene. Ich habe nun seit vielen Jahren meine Haare lang, und ich kann mich nicht erinnern, dass irgendwann mal jemand mit mir eine sachliche Diskussion darüber geführt hatte – ich aber oft große Zustimmung oder Ablehnung erfahren habe, also eine soziale Wertung.

Dies ist in Bezug auf meine Haare nach Erlangung eines gewissen Grund-Selbstbewusstseins diesbezüglich eine im Grunde irrelevante Angelegenheit. Was aber, wenn auch andere, gesellschaftlich relevantere Prozesse im Grunde gleich ablaufen? Das Problem an der Beziehungsebene ist jene, dass sie von sehr vielen Faktoren abhängt, die mit dem expliziten Thema wenig zu tun haben. Meine Großeltern hatten beispielsweise Angst, ich würde nun – mit langen Haaren – zum Drogenjunkie werden. Auf eine sachliche Diskussionsebene, was lange Haare denn eigentlich mit Drogen zu tun hätten, sind wir kaum je gekommen. Oder sie reagieren anders auf das, was ich tue oder nicht tue, wenn sie selbst mehr unter Druck stehen. Als Kind wie Jugendlicher, wenn man noch faktisch von der Unterstützung der Eltern direkt abhängig ist, ist es essentiell, die jeweiligen Interessensgruppen zumindest soweit zufriedenzustellen, dass sie die Unterstützung nicht völlig einstellen. Irgendwann, wenn zwar eine Abhängigkeit von der Gesellschaft als Ganzes weiterbesteht, aber die Normen sich von jenen des Familiensystems verallgemeinern auf jene der Gesellschaft, entstehen andere Freiräume – vor allem aber die Möglichkeit, sich für jene Gruppierungen zu entscheiden, in deren spezielleren Normen man sich ohnehin wohlfühlt.

Wer die Erfahrung gemacht hat, in eine Gruppe mit sehr anderen Normen zu kommen, von deren Unterstützung man jedoch abhängig ist (beispielsweise, wenn man für einige Zeit in einem fremden Land lebt), wird feststellen, wie unglaublich anstrengend es ist, diesen zahlreichen und nie wirklich explizit definierten Normen zu entsprechen. „Das ist ja selbst-verständlich“ ist wohl einer der für den Neuhinzugekommenen nervigste Satz überhaupt – denn für ihn, der (noch) nicht die jahrelange Erfahrung der Gruppe teilt, ist es eben nicht selbst-verständlich. Und da der Neue die impliziten Gesetzmäßigkeiten nicht kennt, ist er der – für ihn in Ermangelung von Wissen und Erfahrung so empfundenen – Willkür der Gruppe ausgeliefert. Für ihn ist es sehr schwer, verantwortliche Entscheidungen zu treffen, weil er schlicht nicht vorhersehen kann, was die jeweiligen Konsequenzen sein werden. Im Grunde wird er erstmal ordentlich anecken, bevor ihm (im Regelfall wiederum auf Beziehungsebene) klargemacht wird, wie daneben er sich doch benimmt.

Eine Schule, basierend auf der Beziehungsebene

Wenn mir nun einmal annehmen, dass eine durchschnittliche Schule ebenso auf Normen und dem Aushandeln aller Konflikte auf der Beziehungsebene basiert, was ich für ein durchaus realistisches Bild halte, welche Konsequenzen würde dies nach sich ziehen? Vermutlich würde es bedeuten, dass das Handeln der Akteure je nach Tagesverfassung sehr unterschiedliche Konsequenzen durch die anderen Akteure zur Folge hätte. Im sozialen System einer Schulklasse würde das bedeuten, dass ein Lehrer unter Stress auf die Anfragen der Schüler anders reagiert als wenn er entspannt ist. Möglicherweise wird er auch auf die Anfragen der Schüler jeweils unterschiedlich reagieren, je nachdem, wie sehr er sie auf der Beziehungsebene mag (auch wenn er dies wohl nie zugeben würde).

Dadurch, dass er ja je nach Tagesverfassung unterschiedlich handelt, wird es in der Klasse keine explizit ausformulierten und umgesetzten Abläufe geben, die für alle Kinder gleich sind. Es wird wohl eine Art von Klassen-Kultur geben, an die sich die Kinder mit der Zeit anpassen, aber diese Anpassung basiert ebenso auf der Beziehungsebene. Neu hinzu kommenden Kinder lernen (ebenso auf der Beziehungsebene) von ihm wie den anderen Kindern die Normen, an die sie sich zu halten haben. Norm-Verstöße führen zu Konsequenzen auf der Beziehungsebene, die willkürlich entschieden werden.

Dadurch, dass es keine verlässlichen Abläufe gibt, mit denen die Kinder rechnen können, setzen sich diese auch nicht durch. Es gibt kaum ein entwickeltes Rollenverständnis unabhängig von den diese Rollen ausfüllenden Personen, und ein Kind kann kaum unterscheiden zwischen der Lehrer-Rolle und dem Lehrer als Person. Wird der Lehrer durch einen anderen ersetzt, kann der Neue nicht auf etablierte Abläufe zurückgreifen. Es gibt kaum eine Verbindlichkeit, die nicht auf der Beziehungsebene wieder aufgehoben werden kann, weswegen es aus Sicht des Kindes auch gar keinen Sinn macht, verantwortlich zu handeln. Ja. Die Einsicht mag schmerzen, aber es ist so.

Unter Erwachsenen

Noch interessanter wird die Sache, wenn man dieselben Beziehungsstrukturen auf das Verhältnis zwischen der Leitung einer Schule und den einzelnen Lehrern überträgt. Wenn auch hier Anfragen auf der Beziehungsebene geklärt werden, können sich auch die Lehrer nicht wirklich auf etwas verlassen. Vor allem aber ist es ihnen damit im Grunde erschwert bis unmöglich gemacht, ihren Kindern eine auf Rechtsgrundsätzen basierende (und damit vorhersehbare) Umgebung zu schaffen, solange ihr eigener Raum nicht nach diesen Rechtsgrundsätzen abgesichert ist. Dieser Rechtsraum ist für Lehrer zwar grundsätzlich gesetzlich abgesichert, aber dies betrifft (meines Wissens) nicht den klassenübergreifenden Raum, der dann wiederum sehr wohl von Willkür auf der Beziehungsebene geprägt sein kann.

Wenn hier keine klaren Prozesse nach Recht-mäígem Handeln geschaffen werden, bedeutet dies vor allem, dass hierbei gruppendynamische Prozesse frei wirken können. Das bedeutet im Regelfall die Etablierung einer sich mit sich wohl fühlenden Mehrheit, die Vorstöße einzelner mit abweichender Meinung entsprechend sozial bestraft. Jedwede tatsächliche Veränderungen auf dieser Ebene müssen dementsprechend entweder direkt vom Direktor kommen, der die formale Position innehat, diese auch gegen Widerstände durchzusetzen, oder verlangen nach einer (hier wertfrei gemeinten) politischen Intrige im Sinne des Schmiedens von Allianzen und heimlichen Mehrheiten. All dies kostet enorme Kraft, schließt vor allem aber auch einige, die keine Lust haben, den Großteil ihrer Energie auf die Beruhigung von Egos zu verschwenden, von einem Veränderungsprozess aus. Damit werden wertvolle Ressourcen unnötig verworfen.

Ich möchte hier niemandem Bösartigkeit unterstellen und gehe auch davon aus, dass im Grunde alle immer nur glauben das Bestmögliche zu tun (ansonsten wäre mein Leben wohl um einiges unglücklicher), aber diesen (oder irgendeinen Raum) auf der Beziehungsebene zu regeln, hat systemische Konsequenzen. Denn selbst wenn der so willkürlich führende Direktor Gutes im Sinne hat, verunmöglicht er, so lange er auf der Beziehungsebene bleibt und keine Strukturen nach Recht-mäßigem Vorgehen erlaubt oder schafft, ein selbstverantwortliches Handeln seiner untergebenen Lehrer.

Dies mag dort in Ordnung sein, wo eine Schule genau den Ansprüchen und Bedürfnissen aller Beteiligten entspricht (auch wenn ich das für eine Utopie halte), aber spätestens dann, wenn Veränderung erwünscht ist, halte ich Recht-mäßiges Vorgehen mittlerweile für ein Muss. Mit jeder Entscheidung, die transparent, verbindlich, allgemein, schriftlich und mit dem Ziel der Schaffung von Abläufen und Strukturen getroffen wird, erspart man sich in Zukunft eine Heidenarbeit. Zudem ist allen Beteiligten ersichtlich, wo sie für gewünschte Veränderungen ansetzen müssen, anstatt sich durch einen Morast von Befindlichkeiten wühlen zu müssen.

Als ich diese Art zu denken erstmals konkret bei dem Supervisor einer Schule, an der ich gearbeitet habe, gesehen habe, habe ich den Sinn noch nicht ganz verstanden und ihm oft widersprochen, weil er hart gegen auf der Beziehungsebene vorgetragenen Einwänden als „unsachlich“ vorging. Mittlerweile allerdings bin ich ihm sehr dankbar, mir diese Sichtweise ermöglicht zu haben, weil sie zum Aufbau funktionierender sozialer Systeme einfach absolut notwendig ist und bei ihrem Fehlen die Gefahr von eigentlich unnötigen Burnout-Erscheinungen und resignierenden Menschen enorm erhöht.

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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