Eine Schulung in (In-)Toleranz

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Bei Gesellschaften handelt es sich in vielerlei Hinsicht einfach nur um sehr große Gruppen von Menschen, was bedeutet, dass viele der Vorgänge, die in Gruppen stattfinden, sich (oft in veränderter Form) auch in ganzen Gesellschaften wiederfinden lassen. Die Eigenschaft von Gruppen, die uns für diesen Beitrag besonders interessiert, ist die Herausbildung von Gruppen-Normen, die die Mitglieder der In-Group von den Mitgliedern anderer Gruppen abgrenzt.

Irgendwann vor etwa 200 Jahren hatte jemand im Gebiet des heutigen Deutschlands die geniale Idee, alle Kinder der aus den Gebieten der alten verfeindeten Fürstentümern zu bildenden Nation eine möglichst gleichartige Schulbildung durchlaufen zu lassen. Dieses Schulsystem sollte dermaßen aufgebaut sein, dass es a) allen zukünftigen Kindern der Nation das „Wesentliche“ beibrachte, und b) dafür sorgte, dass alle zukünftigen Kinder der Nation auf ähnliche oder sogar gleiche Erfahrungen zurückblicken konnten. Jeder, der eine deutsche (oder damals preußische) Schule besucht hatte, war damit gefühlt ein Deutscher (Preuße). In relativ kurzer Zeit wurde aus einem Gewusel von sich untereinander bekriegenden Fürstentümern so eine stolze Nation, deren Bürger sich mit ihr identifizierten.

Denken formen

Der Kanon an Büchern, der in vielen Schulen noch heute verwendet wird, ist ein weiteres Beispiel jener Gleichschaltung, um ein Gefühl von Gemeinschaft zu schaffen. In meiner Schulzeit hatte ich einige Bücher zu lesen, die auch meine Großeltern schon in ihrer Schulzeit zu lesen hatten. Bücher zu lesen bedeutet, sich auf die Gedanken des Autors einzulassen, bedeutet, sich auf die Art des Denkens des Autors einzulassen. Nicht ohne Grund werden in vielen Schulen heute noch Bücher gemeinsam gelesen. In meiner Schulzeit etwa wurde nach fast jedem Satz gefragt, was der Autor damit gemeint haben könnte, so dass die gesamte Klasse die gleichen, „richtigen“ Interpretationen vornehmen konnte. Damals hielt ich es für Schikane, heute kann ich mir vorstellen, dass der Grund ebenjener war, für eine Einführung in die Gruppennorm des gesellschaftlich verbreiteten Denkens zu sorgen.

Viele meiner Nachhilfeschüler fragten mich vor einigen Jahren, warum sie so viele Mathematik-Aufgaben zu rechnen hatten, die sie vermutlich (und vielleicht auch faktisch) in ihrem weiteren Leben nie mehr brauchen würden. Im Lichte der Einführung in gesellschaftliche Gruppennormen bekommen die vielen Aufgaben eine weitere Bedeutung. Es geht darum, eine bestimmte Art des Denkens zu fördern, die eine Identifikation mit anderen Menschen, die diese Art des Denkens ebenso verinnerlicht haben, erleichtert. Schulbildung in Gleichschaltung und eine Schul- bzw. Unterrichtspflicht schafft eine Gesellschaft, in der ein jeder davon ausgehen kann, dass der jeweils andere ähnlich denkt und somit a) eine gewisse Empathiefähigkeit gewährleistet wird (ich helfe jemand aus meinem „Stamm“) und b) die Bedrohung durch unvorhersehbares Verhalten des Anderen minimiert wird.

Ohne unser Schulsystem, oder wenn es eines Tages der Fall sein würde, dass alle Kinder von ihren Eltern (oder anderweitig sehr individuell) unterrichtet werden, kann es passieren, dass diese Identifikation mit dem „großen Ganzen“ verblasst, bzw. es erheblich öfter zu der Situation kommt, dass ein Mensch das Verhalten des Anderen nicht mehr nachvollziehen kann. Eine gemeinsame Schule mit gleichartigen Schulerfahrungen für alle sorgt dafür, dass im Zusammenleben der sie durchlaufenden Menschen seltener Irritationen auftreten und damit für ein weitgehend friedvolles Zusammenleben. „Gleichschaltung“, oft negativ besetzt, kann in diesem Kontext durchaus auch positiv gesehen werden.

Nun leben wir jedoch in einer Zeit, in der die globale Migration über viele Kulturgrenzen hinweg immer mehr zur Norm wird. In unseren Städten und Dörfern treffen nun plötzlich Menschen aufeinander, die von ihrem jeweiligen Bildungssystem auf ein Leben mit Gleichgesinnten, mit ähnlich kulturell geformten Menschen vorbereitet wurden. Das, was in einer anderen Kultur ein völlig selbstverständliches Verhalten darstellt, empfindet nun der Andere als bedrohlich (weil nicht vorhersehbar) – und er hat nicht erlernen müssen, mit dieser Bedrohungssituation umzugehen. Durch die Gleichschaltung der Schulerfahrung, die ihn vor der Situation schützen sollte, hat er sich nur wenig im Umgang mit völlig Anderem üben müssen bzw. können, was es ihm nun erschwert, damit umzugehen.

In der Folge sollen sich die „bösen“ Ausländer etwa in Österreich „integrieren“, „unsere Werte akzeptieren“ oder wie auch immer man es nennen mag. Die Identifikation mit der eigenen Gruppe oder Nation sorgt auch für eine umso klarere Trennung von den Außen-Seitern, bei – wie aus den Forschungen zur Gruppendynamik bekannt – Betonung der Vorzüge der eigenen Gruppe und Betonung der negativen Aspekte der anderen Gruppe: der sogenannte „Ethnozentrismus“.

Gesellschaftliche Auswirkungen der Gewöhnung an Intoleranz

Wenn wir annehmen, dass die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung ein weitgehend ähnliches Schulsystem durchlaufen hat, das auf der Idee aufbaut, durch gleichartige Behandlung und gleichartigen Lehrstoff eine Art nationale (bzw. mittlerweile wohl zunehmend westlich-europäische) Identität aufzubauen, lässt sich nachvollziehen, woher die in meiner Heimat weit verbreitete Angst vor der „Umvolkung“ oder der „Islamisierung“ kommen mag. Wenn ich von klein auf gelernt habe, dass es eine Wahrheit, eine gute Art zu leben gibt, und plötzlich jemand in meiner Umgebung lebt, der ebenso aufgewachsen ist, aber eine andere Wahrheit, eine andere gute Art zu leben vermittelt bekommen hat, sind Ängste und Konflikte nur die logische Folge. Denn wenn es in meiner Vorstellung nur eine Wahrheit gibt, und diese jemand durch sein Anders-Sein infrage stellt, muss ich dann meine Wahrheit gegen seine verteidigen.

Wenn man sich die jeweiligen „Anderen“ über längere Zeiträume ansieht, seien es nun die Juden, die Osmanen, zwischendurch die Franzosen (im deutschen Fall), die Russen, aktuell gerade wieder einmal „die Moslems“, fällt auf, dass es zumeist weniger um konkrete Probleme mit individuellen Menschen geht, sondern eher um eine schwer definierbare (und damit schwer überwindbare) Angst vor der Veränderung der eigenen Werte geht (des „christlichen Abendlandes“ beispielsweise). Kaum wird klar definiert, worin diese Werte denn nun genau bestehen – was eine konstruktive Meta-Diskussion ermöglichen würde – es geht zumeist eher um ein dumpfes Gefühl. Ich stelle hier nun einfach einmal die Hypothese auf, dass es vielleicht um die Frage gehen könnte, ob die eigene Gruppe (und damit Identität) tatsächlich die bessere (bzw. die „richtige“) sei, und die Angst davor, im Kampf um die besten Werte zu „unterliegen“. In gewisser Weise handelt es sich auch um eine Art von Survival-of-the-fittest, in diesem Fall der besten Werte, wie wir es schon im Kontext der Rassenideologien zur Genüge hatten.

Es wird uns als Gesellschaft nicht möglich sein, diese beschränkenden Sichtweisen zu überwinden, solange wir nicht lernen, dass es am Ende nicht darum gehen muss, welche Lebensweise objektiv die beste, sozialste, effektivste oder wasauchimmer ist, sondern darum, die für mich persönlich beste zu finden, ohne sie einem jeden anderen aufdrängen zu müssen. Dass es nicht darauf ankommt, welcher Religion sich ein Mensch offiziell verschrieben hat, in welcher Region der Erde er geboren ist, welche Sprache er spricht, welchem Geschlecht er angehört oder wie seine sexuelle Orientierung ist. Wenn wir nicht lernen, einen jeden Menschen als einen eigenständigen Menschen anzusehen, der zwar von seinen Umständen sicherlich mitgeprägt, aber nicht völlig definiert ist, werden wir unsere Energie weiter in sinnlosen Gruppenkämpfen aufreiben, anstatt andere Menschen als diejenigen kennenzulernen, die sie in Wahrheit sind. Wir werden lernen müssen, einen jeden Menschen als denjenigen zu akzeptieren, der er nun eben einmal ist. Das bedeutet nicht, dass wir sein Verhalten immer tolerieren müssen, wo es nicht angebracht ist, aber es wird Zeit, dass wir als Gesellschaft lernen, diese Intoleranz so umzusetzen, dass sie nicht gleichzeitig Inakzeptanz und damit – zumindest psychologisch – Ausschluss bedeuten muss.

Toleranz und Akzeptanz

Von unserem Supervisor hier an der Schule habe ich gelernt, zwischen Akzeptanz und Toleranz zu unterscheiden. Zumeist wird ja im positiven Sinne von Toleranz gesprochen, und die Diskussion entbrennt dann darüber, wo die Grenzen der Toleranz sein können und wo sich der andere dann doch anpassen sollte. Akzeptanz und Toleranz werden dabei meist synonym verwendet, obwohl sie völlig unterschiedliche Konzepte darstellen können. Ich kann einen Menschen in all seinen Facetten zu 100% akzeptieren, auch wenn mich sein Verhalten nerven mag – ich kann akzeptieren, dass er nun einmal so ist, wie er ist, entstanden aus seiner ganz persönlichen Geschichte, seiner Biographie und der Entscheidungen, die er jeweils getroffen hat und die Bedürfnisse, die daraus entstanden sind. Und ich kann gleichzeitig feststellen, dass ich gewisse Verhaltensweisen zu gewissen Zeiten und Orten nicht tolerieren kann oder will. Das bedeutet nicht, dass der Mensch an sich sich ändern muss, sondern nur, dass ich von ihm will, sich in bestimmten Situationen anders zu verhalten.

In der Praxis bedeutet dies, dass ich ein Kind, das vielleicht gerade große Freude daran hat, auf einer Tastatur herumzuklopfen, aus dem Raum schicken kann, wenn der dadurch entstehende Geräuschpegel meinen Mathematik-Kurs massiv behindert. Im Idealfall gelingt es mir dabei, dem Kind zu vermitteln, dass ich keineswegs etwas gegen es selbst oder seine Bedürfnisse habe, sondern sein Verhalten in jener speziellen Situation nicht toleriere. Ich akzeptiere einen Schüler als der Mensch, der er ist, aber dies bedeutet nicht, dass ich in Situationen, die es erfordern, nicht intolerant gegen gewisse störende Verhaltensweisen sein kann.

Diese Unterscheidung mag auf den ersten Blick trivial erscheinen, aber je öfter ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir bewusst, wie oft es im Alltag geschieht, dass Lehrer und Lehrerinnen ein Kind so zurechtweisen, dass es nicht nur lernt, dass sein Verhalten in der Situation nicht toleriert wird, sondern auch, dass es selbst als Mensch generell nicht akzeptiert wird. Das Kind sollte sich verstanden fühlen, und im Idealfall auch ein Verständnis erlangen, warum sein Verhalten an diesem Ort und zu dieser Zeit nicht toleriert wird. Auf der anderen Seite kommt es wohl vor allem an freien Schulen ebenso oft vor, dass sich Lehrer und Lehrerinnen nicht trauen, für den manchmal trotz aller Liebe zur Freiheit notwendigen Rahmen zu sorgen, aus Angst, von den Kindern als intolerant wahrgenommen zu werden. Aus einer Haltung von falsch verstandener Toleranz wird dann plötzlich Beliebigkeit und (oftmals) Hilflosigkeit.

Ein mögliches Ziel

Ich halte es für ein sinnvolles Ziel, zu versuchen, eine Gruppenidentität aufzubauen, die darin besteht, alle Mitglieder der Gruppe (und weiter auch andere Menschen) völlig akzeptieren zu können, und auch akzeptieren zu können, dass es die Aufgabe eines jeden einzelnen ist, die für sich persönlich passendste Lebensweise herauszufinden. Dass es schön sein kann, voneinander zu lernen, aber dies nicht bedeuteten muss, dass die Wertigkeiten von einem jeden Gruppenmitglied gleich oder auch nur ähnlich sein müssen. Eine Gruppe, in der es klar ist, dass eine gewisse Intoleranz gegenüber störendem Verhalten manchmal notwendig sein wird, aber niemals Inakzeptanz des Seins der Anderen selbst.

Nun muss ich ehrlicherweise feststellen, dass ich noch weit davon entfernt bin, dies in der Praxis erreicht zu haben. Aber ich glaube fest daran, dass es mit der Zeit tatsächlich möglich sein kann.

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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