Genauer gesagt war es der erste Eltern-Nachmittag, denn er begann um drei Uhr heute in meiner Schule, und ich war entsprechend etwas nervös. Viele der Eltern kannte ich bereits von kurzen Begegnungen, wenn Kinder am Morgen ankamen oder abgeholt wurden, aber trotzdem stellte ich mir im Vorhinein viele Fragen: Würden sie mich akzeptieren? Was erzählten die Kinder tatsächlich zu Hause über mich? Wie gross war das Vertrauen in jemanden, der ja offiziell nicht einmal seinen Volkschullehrer-Abschluss hatte?
Nach einer kurzen allgemeinen Vorstellungsrunde, in der sich auch die zweite neue Pädagogin, die ab nächster Woche für drei Tage aushelfen sollte, vorstellte, sollte ich erzählen, was sich die letzten Wochen eben getan hatte, wie ich mir den Tagesablauf vorstelle, was ich tat und zu tun gedenke, und warum. Es waren keine Fragen über das Konzept der Schule, denn das Konzept der Schule wurde in den letzten Wochen zuerst völlig ins Gegenteil verkehrt und dann von mir stückweise an die Wirklichkeiten angepasst – es waren sehr persönliche Fragen, weil ich das Schulkonzept sehr stark meinen persönlichen Vorstellungen angepasst hatte, und sie hatten sehr persönliche Antworten verdient, mit denen ich mich ungeschützt durch den Vorwand, doch nur ein Schulkonzept zu befolgen, der Kritik auszusetzen hatte.
Also erzählte ich, von dem Lernziel-Plakat, auf dem der gesamte VS-Lehrplan für Mathematik in kleine Themenbereiche aufgeteilt war und in dem ein jeder Bereich für einen Probe-Test und eine Meisterschaft stand. Davon, dass ein Schüler, der einen Themenbereich absolvieren will, einen Probe-Test, der exakt gleich aufgebaut ist wie die Meisterschaft, nur mit anderen Zahlen, bekommt, um sich selbst einschätzen zu können, ob er die Meisterschaft, also den tatsächlichen Test, bereits beherrscht. Davon, dass diese Meisterschaft jederzeit ablegbar ist, sobald sich der Schüler bereit fühlt und dass eine absolvierte Meisterschaft dazu führt, dass ein Pickerl mit dem Buchstaben des Schülers zum Themenbereich kommt, an dem die anderen ablesen können, wer ihnen bei der Erarbeitung des Bereiches behilflich sein kann. Und dass die Schüler damit seit Montag um einiges mehr weitergebracht hatten als seit Schulbeginn und gleichzeitig auch alles gut dokumentiert sei für die Gewährung des Öffentlichkeitsrechts.
Ich erzählte davon, wie ich schnell erkannte, dass absolute Freiheit die Schüler in völlige Anarchie und Gesetz- und damit Rechts-Losigkeit stürzt, aus der sie sich retten, in dem sie ein Recht des Stärkeren einführen, und dass es meine Aufgabe war, dem einen Rechtsrahmen entgegenzusetzen, der auch den körperlich nicht so starken einen Raum gab, in dem sie sich entfalten konnten. Dass der von den Organisatoren der Schule entworfene Gegenentwurf so starr geregelt war, dass die Freiräume aufhörten zu existieren und der Widerstand der Schüler aus meiner Sicht durchaus legitimiert war, und dass ich gerade experimentierte, mit welchem Freiraum die Schüler wirklich umgehen konnten. Und dass ich zu dem Schluss gekommen war (tatsächlich erst heute, einige Minuten vor Beginn des Elternnachmittages), dass es wohl das sinnvollste war, diese Freiräume nicht für jedes Kind gleich zu definieren, sondern von seinen Fähigkeiten, mit diesen Freiräumen umzugehen, abhängig zu machen. Tatsächlich erscheint mir das nun die gerechtere Variante, als alle über einen Kamm zu scheren.
Und während ich so erzählte, bemerkte ich, dass es sehr still wurde, und als ich weitersprach, merkte ich, dass ich in diesem Raum als Autorität respektiert wurde. Nicht, weil ich eine abgeschlossene Ausbildung hatte oder irgendeinen Titel, sondern weil ich ihnen meine Sicht der Welt offenbart hatte, von meinen Lösungsversuchen erzählt hatte, meinen Fehlern und Unvollkommenheiten, meinen Ängsten, aber auch meinen Hoffnungen und Träumen für die Zukunft. Vor ihnen stand ein Mensch, der sich bemühte, Mensch zu bleiben und auch ihre Kinder Menschen bleiben zu lassen, egal, wie sie sich verhielten. Der kein Kind aufgeben wollte, weil er das Gute in einem jeden Kind sah, aber auch die Mauern, mit denen es selbst oft verhinderte, dass dieses Gute der Welt geschenkt werden würde, und der die Hoffnung hatte, eines Tages diese Mauern brechen, dieses Licht in die Welt strahlen zu sehen.
Ich hatte an diesem Eltern-Nachmittag, etwas unsicher, wie die Antwort ausfallen würde, die Vertrauensfrage an diese Eltern gestellt, von der mein weiteres Schicksal ebenso abhing wie das eines Politikers – und mit überwältigendem Erfolg bestanden. Hier war ein Ort, hier war ein Weg, mein Weg, und sie waren bereit, diesen Weg mit mir zu gehen. Vielleicht hätte ich doch Politiker werden sollen…
Niklas