Vor einigen Tagen spürte ich in mir Wut aufkommen. Wut, für die ich keinen rationalen Grund fand. Niemand hatte mir etwas getan. Die Welt hatte sich in keiner wahrnehmbaren Weise über Nacht in eine Richtung entwickelt, die mir nicht gefiel. Da ich die Ursache meiner Wut nicht feststellen konnte und schon gar nicht an anderen auslassen wollte, versuchte ich, mich abzulenken. Ich las, hörte Musik, sah Videos, kochte mir etwas zu essen. Es funktionierte nur sehr begrenzt. Die Wut kam zurück.
Es heisst, Wut liesse sich durch Sport verflüchtigen, weil Wut überschüssige Energie darstelle, die der Körper auf diese Art und Weise verbrauchen kann. Ich verliess also das Apartment und rannte einige Runden um den nahegelegenen Park. Dies funktionierte. Doch über Nacht kam die Wut zurück, und während ich erneut meine Runden im Park drehte, wurde mir klar, dass dies keine langfristige Lösung sei. Ich erlaubte mir, die Wut zuzulassen, etwas, mit dem ich als Gewalt ablehnender Mensch meine Schwierigkeiten habe, und entdeckte, dass ich wütend auf mich selbst war.
Wenn wir davon ausgehen, dass Wut die Funktion hat, Energien zur Veränderung einer Situation bereitzustellen, so bedeutet dies möglicherweise, dass Wut auf einen selbst Energie für einen Selbstveränderungsprozess bereitstellen will. Sie entsteht wohl aus der Diskrepanz wischen demjenigen, der man sein könnte und demjenigen, den man sich erlaubt, zu sein. Ähnlich der Wut über andere, die einen in seiner Selbstwerdung behindern, kann man augenscheinlich auch Wut gegen sich selbst entwickeln, wenn dieses Selbst seine eigene Werdung blockiert. An diesem Tag beschloss ich, diesen Blog zu starten.
Ich hatte schon lange mit dem Gedanken gespielt, meine Ideen und Vorstellungen über Lernen und Lehren mit anderen zu teilen, aber tausende Entschuldigungen gefunden, es nicht zu tun. Es wird niemanden interessieren. Ich bin der einzige, der so denkt. Ich kann die portugiesische Sprache zu wenig, um über solche Themen zu argumentieren (lebe ja gerade in Brasilien). Ich habe das noch nie vorher getan. Mir fehlt die Ausbildung. Es finden sich sehr leicht äussere Umstände, die gegen eine Handlung sprechen oder das Erreichen des gesetzten Zieles unmöglich erscheinen lassen.
Aber das Setzen eines Zieles setzt nicht nur einen fixen, bestimmten Punkt, der zu erreichen ist, sondern gibt auch eine Richtung vor. Wenn nicht das tatsächliche Erreichen des Zieles, sondern eine Bewegung in die gewählte Richtung als wahre Notwendigkeit erkannt wird, so können viele Ängste und Widerstände aus dem Weg geräumt werden. Wenn ich mir als Ziel setze, bis Januar eine bestimmte Anzahl von Lesern des Blogs zu erreichen oder zu überschreiten, so werde ich vermutlich verzagen, wenn diese Zahl bis Dezember noch unerreichbar erscheint und zurück zu meinem nicht schreibenden Ich kehren.
Wenn ich jedoch dieses Ziel als reine Richtungsvorgabe für mich selbst setze und in regelmässigen Abständen darauf hin arbeite, so wird das tatsächliche Erreichen der Anzahl an regelmässigen Leser irrelevant. Es geht darum, eine selbstgewählte Entwicklung in eine Richtung voranzutreiben, die man für sich gewählt hat, bis eine andere Richtung sich richtiger anfühlt. „Never settle!“, bleibt niemals stehen, wie Steve Jobs in seiner berühmten Harvard-Ansprache seinem Publikum empfahl. Aber dies bedeutet nicht, an nicht erreichten Zielen zu zerbrechen – eben darum diese für mich vorläufig funktionierende Lösung der Richtungsentwicklung.
Was hat dies alles mit dem Lernen und Lehren zu tun? Nun, wer lernt, wer wird, der benötigt gute Vorbilder, die diesen Werdeprozess noch nicht abgeschlossen haben. Ein Lehrer, der „ausgelernt“ ist, ist ein lerntechnisch toter Lehrer. Möglicherweise beherrscht er viele Fertigkeiten und weiss viel, aber seine Schüler können ihn nicht als Modell für den grundsätzlichen Werdungsprozess verwenden. Er ist Material, Ressource, Werkzeug, aber kein Modell für die Verwendung dieses Werkzeugs.
In dem Sinne wünsche ich euch eine gute Wut, euch zu leiten, und den Mut, ihr zu folgen.
Niklas