Während ich glücklich und zufrieden meinen Milchreis, der gerade am Köcheln war, umrührte, wurde mir der potentielle Sprengstoff einige meiner früheren Texte bewusst, was das Verhältnis von Erfahrung und Wissenschaft betrifft:
Die wissenschaftliche Methode
Meine Erfahrungen mit der wissenschaftlichen Methode stützen sich grossteils auf den Bereich der Sozialwissenschaften, da ich ja doch immerhin zwei Jahre an der Johannes Kepler Universität in Linz Soziologie studiert habe und danach jetzt gerade mein drittes Jahr im Umfeld von pädagogischen Institutionen absolviere. Im Grossen und Ganzen leitet sich die wissenschaftliche Methodik aus der Mathematik her: Durch Beobachtungen und Experimente werden die Anzahl der beeinflussenden Variablen reduziert, um am Ende zu einer kausalen Erklärung zu gelangen: der Apfel fällt, weil ihn die Erde anzieht. Menschen wählen diese Partei, weil sie von diesem Teil des Parteiprogramms angesprochen werden. 1 + 1 = 2. wer oder was 1 und 2 darstellen, ist dabei vernachlässigbar. Genial, nicht?
Aus diesen kausalen Erklärungen werden dann möglichen Anwendungen abgeleitet. Manchmal werden die Annahmen als falsch erkannt, überarbeitet, und die Wissenschaft prescht voran ins goldene Zeitalter. Doch um zu abstrahieren, muss man Details aussparen, und diese Details stellen aus meiner Sicht die Individualität und damit die Menschlichkeit eines Menschen selbst dar. Der Schüler ist eine sehr entmenschlichte Version von Anja und Lukas, und eine Beschreibung eines abstrakten Schülerverhaltens sagt mir nicht sehr viel darüber, wie sich Anja und Lukas verhalten werden. Aber unsere wissenschaftlichen Methoden sagen uns, wie sich Anja und Lukas als normale Menschen verhalten sollten, und das sie abnormal sind, wenn sie sich anders verhalten. Vielleicht haben sie eine Lernschwäche? ADHS?
Aber was mich beim Umrühren meines Milchreises so verblüfft hat, war etwas anderes: wissenschaftliche Methodik dient der Schaffung von Methoden zur Beeinflussung der Umwelt mit einem gewünschten Endziel. Zur Verbesserung der Mathematik-Kenntnisse des Schülers verwenden Sie bitte Methode X, die sich in unseren Versuchen bei allen Schülern der Testgruppe bewährt hat. Die wissenschaftliche Methode kann gar nicht anders. Sie kann durch empirische Forschungen und Experimente etwa die Effektivität eines Lehrplans verbessern, aber was sie nicht kann, ist individuelle Entwicklung beschreiben oder gar fördern. Sie hat gar kein Vokabular für individuelle Entwicklung, weil dieser Bereich derjenige der subjektiven Erfahrung beinhaltet, den sie als un-wissenschaftlich erklärt hat.
Erfahrung geht vor Wissenschaft
Ich möchte hier eine Lanze brechen für diese alltäglichen, ganz subjektiven Erfahrungen, weil ich glaube, dass es diese sind, die uns ein Verständnis für einen Menschen ermöglichen und nicht die vielen Theorien, wie Menschen sind und damit zu sein haben, die eine Normalität aufstellen, deren Abweichung als Abnormalität oder gar Krankheit attestiert werden kann. Wissenschaftliche Methodik hat eine Norm gefunden, die ADHS als Abweichung von dieser Norm ermöglicht. Wissenschaftliche Methodik kann uns kein Verständnis liefern, warum Lukas wirklich als Mensch reagiert, wie er reagiert. Sie liefert uns eine Fassade, eine Maske, in die wir Lukas pressen können, sie hilft uns, ADHS-Kinder zu verstehen, aber nicht, Lukas zu verstehen – und hilft uns damit nicht wirklich.
Wenn wir nun als Pädagogik-Studenten die Aufgabe haben, eine wissenschaftliche Abschlussarbeit zu einem pädagogischen Thema zu verfassen, die streng nach wissenschaftlichen Kriterien abgehandelt werden muss, so verstehe ich heute, Monate nach dem Einschicken meiner letzten Version, die hoffentlich so akzeptiert wird, warum ich solche Schwierigkeiten hatte, sie fertig zu stellen. Das wissenschaftliche Vokabular erlaubt es nur sehr eingeschränkt, meine eigenen subjektiven Erfahrungen, die einem Grossteil der pädagogischen Theoriegebilde, widerspricht, in diese Arbeit einzubinden. Es geht nicht um dich, Niklas, oder deine Erfahrungen, du bist ja doch nur ein kleiner Student. Wenn du eigene Erfahrungen einbringen willst, musst du schon eine wissenschaftliche Forschung darüber machen…
Doch exakt hier liegt für mich das Problem: Menschen lassen sich nicht erfolgreich wissenschaftlich erforschen, weil sie eben Menschen sind. Wir erforschen dabei nur abstrakte Masken, nie die Menschen selbst. Unbewusst dürfte ich dies schon seit jeher verstanden haben, wenn ich mir meine alten Blog-Einträge durchsehe, in denen ich meine subjektiven Erfahrungen mit euch teile und meine Verallgemeinerungen auf eine sehr unwissenschaftliche, weil subjektbezogene Sprache anbiete.
Doch was ist der Gegenentwurf zur wissenschaftlichen Methode, um festzustellen, was ein Mensch wirklich braucht und wie es ihm bereitzustellen ist? Ich glaube, es ist eine Form der radikalen Empathie, der Versuch, einen Menschen wirklich verstehen zu wollen. Ehrliche Fragen an ein Du zu stellen, anstatt über ein Du zu forschen. Wir brauchen eine neue, eine unwissenschaftliche Sprache in der Pädagogik, aber wie anfangen?
Sprechen wir mal darüber.
Niklas