Weißer Sandstrand. Palmen, mit einer Hängematte dazwischen. Wolkenloser Himmel, wolkenloses Leben. Sogar das türkisblaue Meer ist ruhig. Nichts, was die Idylle stören kann. „Da möchte ich hin“, steht in großen, roten Lettern auf dem Plakat des Reisebüros. Ja, dachte er, da möchte ich hin. Das musste ein Leben sein! Auf ‘ner Hängematte, irgendwo im Süden, mit einem guten Buch, ‘nem Drink und das Leben so einfach zu schaukeln wie die Hängematte, in der man sich befand. Das war ein Leben! Und er, wie immer, nur vor einem Abbild eines Lebens stehend, das er gerne gelebt hätte. Schön, wenn man klar sehen konnte, was man zum Glück brauchte. 1569 Euro. Hin und zurück. Wobei er ja nur den Hinflug brauchte. Wer wollte schon zurück in diese Betonwüste, in der er dahinvegetierte, wenn er Palmen und Strände haben konnte?
Er wusste, er hatte das Geld nicht. Einen Job hatte er, in dem er angeblich ganz gut verdienen sollte, aber Geld? Jeden Monat wurde ihm eine bestimmte Zahl auf einem Konto gutgeschrieben, und er hatte nicht das Gefühl, auf großem Fuß zu leben, aber im Grunde blieb am Ende selten etwas übrig. Sein ganzes Leben hatte er Geld, aber immer nur gehabt. Es waren die kleinen Preise, die ihn um das große Geld brachten, hatte ihm seine Großmutter mal zu erklären versucht, aber wie konnte man sie dann als „klein“ bezeichnen? Das war doch sicher Betrug, und offen zu betrügen, das konnte sich wohl kein Unternehmen auf Dauer leisten. Trotzdem, es war wie verhext: nach jeder Gehaltserhöhung blieb am Ende des Monats doch wieder nur derselbe traurige Restbetrag übrig. Definitiv keine 1569 Euro. Man mochte so vieles, und hatte doch nur so wenig Geld…
Doch der Wunsch blieb. Da möchte ich hin, rumorte es in seinem Kopf, bis er realisierte, dass ihn hier und jetzt nichts hielt und dass es keinen Sinn hatte, zu warten. Auch in einem Jahr würde er keine 1569 Euro zusammengespart haben. Aber er hatte eine Kreditkarte und einen Kreditrahmen. Das sollte reichen. Rasch, bevor seine eingefahrenen Gewohnheiten ihn stoppen konnten, tippte er die Nummer des Reisebüros ein, die auf dem Plakat abgedruckt war. Zwölf Minuten später war das Geschäft perfekt. In drei Wochen würde er fliegen. Zwei Wochen Mittelamerika. Mit seinen bald 35 Jahren war es an der Zeit, das tun zu können, was man wollte. Auch wenn es sich nur um Urlaub süßes Nichtstun am Strand handelte.
Dort angekommen, stellte er seine Sachen im Apartment ab, nahm ein Buch aus seiner Reisebibliothek und ließ sich in eine der bereitgestellten Hängematten plumpsen. Es war tatsächlich wie auf dem Plakat – von einer bestimmten Perspektive aus betrachtet. Von so ziemlich allen anderen Perspektiven aus war dieser Ort wohl einst wunderschön gewesen, man mochte sich frei gefühlt haben. Aber das musste lange her gewesen sein. Nun war alles perfekt durchdesignt, der Tagesablauf vorgeschlagen und man bekam beinahe ein schlechtes Gewissen, wenn man die Angebote des Veranstalters nicht annahm. Die Einheimischen, wohl auf Leistungsbasis bezahlt und auf entspannungshungrige Erlebnistouristen trainiert, hatten diese traurigen Augen… rund um seine Hängematte begannen nun weitere Touristen mit ihren täglichen angeleiteten „Wellness-Übungen“, die auf ihn irgendwie nicht sonderlich entspannend wirkten. Es war schwer, sich auf sein Buch zu konzentrieren, wenn neben einem ständig wer auf seinem Wellness-Trip vorbeischlauchte.
Aber im Grunde lag es nicht an den anderen. Was ihn nervte, nervte ihn an ihm selbst: warum war er hier? Sein Buch lesen konnte er auch zuhause. Eine Hängematte kostete ihn einige Zehner, und Bäume gab es auch zuhause genug. Warum also war er hier? Hier möchte ich sein, hatte er sich gedacht, aber war es dabei wirklich um diesen oder überhaupt irgendeinen Ort gegangen? Nein, stellte er nun fest. Es ihm um das Gefühl gegangen, im Urlaub zu sein. Doch was bedeutete „Urlaub“ eigentlich für ihn? Sich umsehend, die sich immer noch abstrampelnden Touristen um ihn leicht irritiert betrachtend, wusste er, dass das Gefühl unabhängig von einem Ort sein musste. Dieser Ort löste es zumindest nicht aus. Aber was dann? Und dann erinnerte er sich an das letzte Mal, als er sich verliebt gefühlt hatte. Das war lange her. Doch ja, damals hatte er sich frei gefühlt. Urlaub, das war wohl sowas wie Freiheit mit einem Anfang und einem Ende.
Plötzlich musste er laut lachen. Was nun ihrerseits die Touristen, die um seine Hängematte ihre Wellness-Übungen absolvierten, irritierte. Fast wäre er aus der Hängematte gekippt, so laut musste er lachen. Urlaub, das ist das, was im Kopf passiert, hatte ihm die Großmutter mal erklärt, und er hatte sie ausgelacht. Natürlich, für Menschen der Aufbaugeneration, die sich nur wenig leisten konnten, war es ein schönes Credo. Aber natürlich konnte sie es nicht ernst gemeint haben, oder? Und doch, auch ihre nachfolgenden Worte machten nun mehr Sinn: Urlaub – wie Freiheit – kann dir niemand geben. Da hilft kein Wellness-Instruktor und kein Sandstrand. Dafür braucht’s auch nichts davon. Urlaub wie Freiheit sind einfach da, wenn man sich für sie entscheidet. Die um ihn werkelnden Touristen und Mitarbeiter des Apartments sahen ihn immer noch entgeistert an, hielten ihn wohl für leicht verrückt, einfach ohne ersichtlichen Grund loszulachen. Ich nehm‘ mir mal Urlaub von euch allen, dachte er vergnügt, blendete sie erfolgreich aus seiner Wahrnehmung aus und las weiter in seinem Buch. Urlaub ist das, was im Kopf passiert, dachte er, die Worte im Singsang denkend, und prustete erneut los. Sein Kopf fühlte sich ziemlich… leer an, so leicht, als würde er schweben. Verliebt. In sich selbst.
Und irgendwie in diese ganze verrückte Welt.