#81 Willkommen in meiner Welt

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

In der allgemeinen Panik waren einige auszumachen, die seltsam ruhig zu bleiben schienen. Während rund um sie Menschen jeden Alters kopflos umherrannten und ängstlich in jedes Gesicht blickten, um herauszufinden, von welcher Seite Gefahr drohen würde, gingen sie mit einer unheimlich wirkenden Seelenruhe zum Ausgang des Stadiums – und warteten. Mit ihrer für die Situation auffallend geringen Gehgeschwindigkeit waren sie einigen ihrer panischen Mitmenschen im Weg, die sie unsanft zur Seite stoßen wollten, aber meist sahen sie die puffende Hand, den verärgerten Schubs schon kommen und wichen rechtzeitig aus. Wie zu erwarten gewesen war, waren die Türen des Stadions verschlossen worden. Gute Sicherheitskräfte. Die Ausgänge offen zu halten, während eine kopflose Masse sich gegenseitig niedertrampelte, war ein sicheres Rezept, um Menschen tottrampeln zu lassen. Und so schlenderten sie bedächtigen Schrittes durch das Gewusel, bis sie einen Platz gefunden hatten, der in sicherem Abstand zu den Türen einen gewissen Schutz vor einer eventuell später ausbrechenden Panik bieten konnte – Inseln der Ruhe in dem allgemeinen Chaos und der Furcht, die sie umspülten.

Auf die Atmung achten. Das Wunder genießen, ein- und ausatmen zu können, immer wieder, ohne in der Zwischenzeit von einer Gewehrkugel zerfetzt oder einer Granate zerbombt zu werden. Wenn man auf seinen Atem achtete, war es möglich, jeden Atemzug ein bisschen länger, ein bisschen intensiver zu spüren. Das lernte man rasch in einer Umgebung, in der ein jeder der letzte sein konnte. Er ertappte sich dabei, wie er die kopflosen, fassungslosen Massen um sich mit einem gewissen Mitleid betrachtete. Sie waren wie Kinder, schoss es ihm durch den Kopf. Kinder, die ein Paradies von ihren Eltern geerbt hatten, ohne es zu wissen. Die ihr Leben lang in einer Blase gelebt hatten, durch die die Welt außerhalb in den schillerndsten Farben schien. Und nun war jemand gekommen, hatte die Blase platzen lassen, und sie mussten mit Schrecken feststellen, dass von den schillernden Farben nur noch das übrig blieb, was sich in der wirklichen Welt finden ließ. Das, was man selbst mit der Arbeit seiner Hände und seines Geistes schuf. Und als sie sich umsahen, zum ersten Mal ohne das Blendwerk greller Farben sahen, was sie mitgeschaffen hatten, erschauderten sie.

Da waren einige von ihnen gewesen, die ihn in einem Anflug von Panik für einen weiteren Terroristen gehalten hatten, wohl weil er in der Massenpanik so ruhig bleiben konnte, in ihren Augen also mit Sicherheit mehr wissen musste. Aber das war nicht der Grund für seine Ruhe. Er war es schlicht gewöhnt, jeden Augenblick von einer zufälligen Bombe zerrissen werden zu können, die nicht gegen ihn als Mensch, sondern für eine obskure Idee gezündet worden war und deren Berechtigung sich in der potentiellen Anzahl der Opfer anstatt in der Sinnhaftigkeit der Idee finden ließ. Dort, wo er herkam, war es normal, einen völlig sinnlosen Tod zu sterben. Außergewöhnlich war es eher, wenn man lange genug überlebte, um davonzukommen.

Er stammte aus einem sogenannten „sicheren Herkunftsland“, wie sie es hier zu nennen pflegten. In dem offiziell kein Krieg oder Bürgerkrieg herrschte, aber auch nur deswegen, weil sich die Menschen schon so an die alltägliche Gewalt gewöhnt hatten, dass eine Unterscheidung in „Krieg“ oder „nicht Krieg“ schon lange keinen Sinn mehr zu machen schien. War einer der Glücklichen gewesen, die überlebt hatten, die sich durchgeschlagen hatten bis hierher. Die gedacht hatten, die Menschen hier mussten in gewisser Weise Über-Menschen sein, besonders mutig, kraftvoll oder weise. Die zwei Anschläge auf das Flüchtlingsheim, in das er gekommen war, hatten ihm gezeigt, dass die Menschen hier auch nicht weiser waren als in seiner Heimat. Vielleicht waren sie weniger gleichgültig gegenüber der alltäglichen Gewalt, dafür aber umso mehr bereit, selbst zur Gewalt zu greifen, um „Gerechtigkeit zu üben“, wie sie es nannten. Sie hatten wohl Übung nötig, denn Gerechtigkeit war hier nur sehr schwer zu finden.

Nun waren die Tore geöffnet worden, und die Menschen strömten aus dem Stadion. Er wartete ein paar Minuten, bevor er ihnen folgte. Gleichmütig. Er hatte das Paradies gesehen, von dem sie in seiner Heimat gesprochen hatten, und auch wenn es in so vielem dem widersprach, was ihm versprochen worden war – wie viel mehr konnte er vom Leben erwarten? Einatmen. Ausatmen. Den Moment genießen, so lange er währte. Um ihn herum kopflose Kinder im Körper ausgewachsenen Menschen, die sich empörten, dass so etwas mitten in Paris passieren konnte, dass die Sicherheitskräfte so versagt haben konnten. Wo waren die Pariser, die sich beschwerten, dass so etwas jeden Tag in seiner Heimat passierte? Wo waren die Solidaritäts-Profilbilder auf Facebook für den 300. Anschlag in diesem Jahr in seiner Heimat? Niemand hier würde auch nur auf die Idee kommen, die Opfer dort zu beweinen, vielleicht sogar als mögliche Ursache der Opfer hier zu erkennen.

Doch wer war er, ihre Blase platzen zu lassen? Doch nur ein „Wirtschafts-Flüchtling“, der nicht einmal das Recht hatte, hier zu sein, weil er aus einem angeblich „sicheren Herkunftsland“ stammte. Es gab hier nichts zu sagen für ihn, und noch weniger Ohren, die ihm zuhören wollten. Deswegen: Einatmen. Ausatmen. Leben. So lange es eben währte. Diese aufgeblasenen Kinder, überfordert mit der Realität einer Welt außerhalb ihrer Blase, taten ihm irgendwie Leid.

Willkommen in meiner Welt, dachte er traurig.

Nachtrag 1: Im Nachhinein betrachtet ist es wohl ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Flüchtling die Möglichkeit hat, ins Stadion zu kommen, während die französische Nationalmannschaft spielt.
Nachtrag 2: Gestern abend hörte ich im deutschen Radio einen Bericht über den Süd-Sudan, in dem berichtet wurde, wie viele 10.000 (vorsichtig geschätzt) Menschen dort jährlich bedroht, vergewaltigt (teilweise als Kriegstaktik) und umgebracht werden, und dass dies seit Jahrzehnten so ist, auch nach dem Ausrufen offizieller Waffenruhen. Nur, um nochmal zu zeigen, welch unglaubliches und beinahe unwahrscheinliches Glück wir eigentlich haben, dass solche Geschehnisse bei uns die Ausnahme und nicht die Regel sind. Das ist offensichtlich keineswegs selbstverständlich.

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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