Es war so einfach gewesen, dass er sich im Nachhinein fragte, warum er so lange gebraucht hatte, seinen Weg zu finden. Jahrelang hatte er sich damit gequält, Antworten auf all die philosophischen und ethischen Fragestellungen dieses chaotischen Jahrhunderts zu finden, bis ihm vor etwa einem Jahr ein alter Schulkollege die Lösung auf dem Silbertablett präsentiert hatte: sein Weg würde ihn nach rechts führen. Vorbei waren die Zeiten, in denen er sich den Kopf zerbrochen hatte, wie ein friedliches und respektvolles Zusammenleben so verschiedener Kulturen in Zeiten der Globalisation vollbracht werden konnte, vorbei die Zeiten des Zweifels und der Verunsicherung. Heute war sein Kopf klar wie die Aufgabe, die vor ihm lag.
Es hatte einst eine Zeit gegeben, in der die Menschen sich damit begnügt hatten, zum jeweiligen Nachbardorf zu reisen. Es waren gute Zeiten gewesen, Zeiten des sozialen Zusammenhalts und der Tradition. Heute hingegen herrschte überall Chaos und Verwirrung des Geistes. Die alten Strukturen waren der Herausforderung nicht mehr gewachsen, die Politiker zu schwach, sich ihr zu stellen. Es brauchte, wie so oft in der Geschichte der Menschheit, Männer, richtige Männer, die sich dem Chaos entgegenstellten und es einzudämmen vermochten. Männer wie ihn.
Anfangs hatten sie sich im Geheimen getroffen, weil irgendwelche längst veralteten Gesetze besagten, dass man nicht über eine neue Ordnung sprechen durfte, die einer gewissen alten ähnelte. Doch bald waren es viele gewesen, auch Anwälte und andere kluge Männer, die wussten, wie sie diese Gesetze umgehen konnten, ohne Ärger zu bekommen. Und bald zeigte sich, dass sie eine uralte Sehnsucht in den Massen ansprachen, der Sehnsucht, das Schicksal in fremde Hände zu legen, weil man es selbst nicht mehr verantworten wollte und konnte.
Es war diese Sehnsucht, die er seit seiner Kindheit gespürt und die ihn beinahe verrückt gemacht hatte. Denn in der Schule lernten sie von den großen Aufklärern der Geschichte, die es den Menschen ermöglicht hatten, über ihr eigenes Schicksal zu bestimmen, Menschen, die es verbrochen hatten, dass nun alle über ihr eigenes Schicksal bestimmen mussten. Kein Wunder, dass sich viele die guten alten Zeiten zurückwünschte, als sie die Verantwortung für ihr Leben noch einem Gott übertragen konnten. Oder einem großen Führer, der ihnen diese Last abnehmen konnte. Doch die Mächtigen heute hatten Angst vor einem neuen großen Führer aus dem Volk, wollten ihre Privilegien nicht verlieren, die sie sich so hart erkämpft hatten, als sie den letzten großen Führer von seinem rechtmäßigen Thron gestoßen hatten.
Nun lebten die einstigen Feinde unter ihnen, intrigierten und sabotierten im Geheimen. Es war das Diktat der Sieger gewesen, das bestimmt hatte, die freie Meinung mancher Menschen zu verbieten, um die ihre lautstark herauszuposaunen. Denn sie hatten Angst vor der freien Meinung, wussten, dass sich die Meinung der Massen durchsetzen würde, und verrieten sich doch gerade dadurch selbst, verloren alle Glaubwürdigkeit. Wer konnte schon glauben, dass nur die rechten Recken so niederträchtig waren, wenn sich ihre Gegner auf die gleichen Methoden der Ausgrenzung verließen? Jedes Verbot machte sie mächtiger, und jedes Nichteingreifen ebenso. Ein guter Hirte für die Herde würde sich auch noch finden. Und dann würden sie endlich heimkehren in die gute alte Zeit.
Erst Jahre später, als es schon viel zu spät war, bemerkte er, wer der wahre Feind in diesem Kampf gewesen war. Erst waren es Migranten gewesen, doch die Grenzen waren bald dicht gewesen, und um Asylwerber im Land hatte man sich ebenso schnell gekümmert. Dann waren es einige protestierende Intellektuelle gewesen. Die Reichen. Die Beeinträchtigten. Diejenigen mit chronischen Krankheiten. Priester. Alle andersdenkenden. Ihre Familien und Freunde. In Deutschland brauchte man sie nicht mehr, also wurde ihnen die Staatsbürgerschaft entzogen. Und nachdem auch kein anderer Staat Besitzanspruch an sie stellte, wurden sie eben entsorgt, um den Anderen ein gutes Leben im Wohlstand zu ermöglichen. Das Internet war abgeschaltet worden, weil es störendes Gedankengut verbreitete, und die Mauern rund um Deutschland mit deutscher Gründlichkeit erbaut worden.
Es war Tag der deutschen Einheit, aber zu feiern gab es nur mehr wenig in diesem Land, indem die Einheit total und die Grenzen Deutschlands die Grenzen des geistigen Horizonts darstellten.
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