#145 Mira und die Sprache der Liebe

Eine Geschichte für Kinder über das Loslassen und was es mit dem Erwachsenwerden zu tun hat. Und über die universelle Bedeutung des Segens.
(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Mira und die Sprache der Liebe

Mira und ihr Großvater Alfred waren schon viel in der Welt herumgekommen. Auf seinem großen Boot segelten sie durch die Weltmeere, immer auf der Suche nach einem guten Geschäft – oder auch nur einem interessanten neuen Ort.

So waren sie schon nach Venedig gekommen, wo es keine Straßen gab, sondern kleine Boote, die die Menschen dort Gondeln nannten. Sie hatten einen echten Alligator in Brasilien gesehen, und eine Frau mit gigantischer Unterlippe irgendwo am afrikanischen Kontinent. Mit ihren nun bald elf Jahren war Mira wirklich schon viel herumgekommen für ihr Alter.

Eine Schule hatte sie nie besucht.
„Wozu dich in eine Schule stecken, wo es doch das Leben gibt!“, hatte Großvater nur gelacht und sie einfach mitgenommen. Mutter war sich da nicht so ganz sicher gewesen, aber Großvater konnte durchaus sehr überzeugend sein, wenn es sein musste.
„Was die kleine dort überall für Sprachen lernen wird!“, setzte er sein gewinnendstes Lächeln auf. „Komm schon, es wird ihr gefallen! Dir hat es ja auch immer gefallen!“
Denn auch Mutter war viel herumgekommen mit dem Alten, und hatte bei fast jeder Gelegenheit die eine oder andere abenteuerliche Geschichte zu erzählen gehabt.
Schließlich hatte sie nachgegeben. Das war vor zwei Jahren gewesen. Am Tag der Abreise hatte Mutter etwas gemurmelt, von dem Mira nur die Hälfte verstanden hatte. Auch Großvater hatte mit seiner tiefen Grummelstimme eingestimmt. Aber bald darauf hatte sie es wieder vergessen gehabt.

Ein paar Tage nachdem sie von Macapa in Brasilien abgelegt hatten und schon wieder auf dem Heimweg nach Europa waren, hatte sie einen ihr unbekannten Laut auf dem Schiff gehört. Fast wie ein Fiepen.

Großvater hatte sie erst einige Tage danach davon erzählt, als sie schon mitten auf dem Pazifik unterwegs waren. Danach hatten sie zum ersten Mal so richtig miteinander gestritten.
„Wir können den armen Filipe doch nicht über Bord werfen. Bist du wahnsinnig?“, hatte sie Großvater angeschrien.
Er hatte sie lange angesehen, bevor er wieder sprach.
„Bist du denn auch bereit, für deinen Filipe Verantwortung zu übernehmen, Mira?“
Sein Tonfall dabei war seltsam gewesen, aber sie war so voller Freude, dass sie natürlich sofort Ja gesagt hatte.
„Danke, Großvater!“, hatte sie gerufen. Doch der war sehr ernst geblieben.
„Bedank dich nicht zu früh, Liebes. Du hast gerade etwas gewonnen, aber auch etwas aufgegeben.“
„Was denn?“, hatte Mira gefragt.
„Ich glaube, es ist besser, wenn du das selbst herausfindest“, hatte er rätselhaft geantwortet.

Und so waren sie mit Filipe nach Europa zurückgekehrt. Ein Zwischenstopp in Frankreich, dann über Portugal an die spanische Mittelmeer-Küste. Vermutlich war Filipe irgendeine Art von Meerschweinchen oder etwas in der Art. Auf jeden Fall war er flauschig, ziemlich süß und fiepte offenbar gerne. Außerdem aß er am liebsten Kekse. Genauer gesagt, aß er einfach Unmengen von Keksen. Er aß alle, die man ihm gab, egal wie viele er schon gefressen hatte, und wenn man ihm keine mehr gab, konnte er ganz schön zornig werden. Anfangs hatte Mira ihm dann einfach immer weiter gefüttert. Aber irgendwann hatte sie das Gefühl, dass das auch keine Lösung war. Dann hatte sie damit aufgehört, aber Filipe hatte offenbar eine sehr feine Nase, denn er fand die Kekse auch so. Seine sehr scharfen Zähne waren sicher auch hilfreich dabei.

„Großvater, Filipe isst alle Kekse auf. Er wird noch Bauchschmerzen bekommen!“, klagte Mira ihrem Großvater ihr Leid.
„Filipe ist nun deine Verantwortung“, sagte dieser. „Was kannst du tun, um ihm zu helfen?“
„Ich könnte einfach keine Kekse mehr kaufen.“, fiel ihr ein. „Aber ich mag sie doch selbst so gerne!“
Der Großvater schmunzelte.
„Tja, was kann man da wohl machen?“

Und so war Mira unfreiwilligerweise ihre Angewohnheit losgeworden, ständig Kekse in sich reinzustopfen. Filipe war eine Weile sehr aufgebracht gewesen. Vielleicht kam das ja auch vom Zucker-Entzug. Aber dann hatte er sich beruhigt gehabt und war wieder recht handzahm geworden.

Als sie dann nach fast einem Jahr in der Fremde wieder in Venedig einliefen, freute sich Mira schon auf ihren alten Freund Sebastian. So lange schon hatten sie sich nicht mehr gesehen! Er würde staunen, wenn er Filipe sehen würde! Doch als Sebastian dann endlich an Bord kam, wirkte er irgendwie verändert. Distanziert.
„Freust du dich denn gar nicht, dass wir wieder da sind?“, fragte Mira ihn verwirrt. So lange schon hatte sie sich auf diesen Moment gefreut.
„Mira, du warst lange weg. Ich war dir ja eine Weile auch treu ergeben und habe auf dich gewartet. Aber ein Jahr lang?! Ich habe jetzt auch andere Freunde, die eifersüchtig werden, wenn ich zu viel mit dir spiele. ‚Was findest du nur an ihr?‘, haben sie mich gefragt, und ‚Sie kommt sowieso nicht zurück‘“.
Er blickte weg.
„Irgendwann habe ich dann aufgehört zu warten. Es war zu traurig. Verstehst du das?“
Mira war verwirrt. Konnten Gefühle sich so verändern, und dass in nicht einmal einem Jahr?
„Ja, natürlich verstehe ich das.“
Das war gelogen. Aber sie sah, dass er sich unwohl fühlte, und erlaubte es ihm auf diese Weise, zu gehen.
Filipe fiepte hinter ihr. Es klang irgendwie fast freundschaftlich.
„Nun bist du wohl mein neuer bester Freund, Filipe.“

Einige Jahre später kamen sie wieder am südamerikanischen Kontinent vorbei. Mira war von einem seltsamen Geräusch aufgewacht, und spitzte die Ohren. War das Filipe? Nein, der klang anders. Aber es klang so ähnlich..

Am nächsten Tag sah sie das Rudel am Ufer des Amazonas, den sie gerade durchfuhren. Es trottete gemächlich mit der Geschwindigkeit des Bootes mit. Immer wieder erklang das Fiepen, das dem Filipes ähnlich, aber doch nicht gleich war. Sie sah ihn an.
War das hier etwa seine Familie? Hatte er sich vor einigen Jahren einfach verlaufen, war versehentlich auf ihr Boot gekommen, und seine Familie hatte all die Jahre hier auf sie gewartet?
Auch Großvater hatte das Rudel am Ufer schon erblickt, und sah sie prüfend an.
„Aber er ist mein Freund!“, protestierte sie. „Mein bester Freund!“
Filipe schien die Gruppe am Ufer auch gar nicht weiter zu beachten, während diese immer lauter, immer verzweifelter fiepte.
„Guter Filipe“, sagte sie, „mein guter Filipe bleibt bei mir. Für immer.“
„Mira“, sagte Großvater nur, und dann sah sie plötzlich unzählige Bilder vor ihrem geistigen Auge umherschwirren. Ihre Mutter, die sie mit Großvater hatte gehen lassen, gerade weil sie sie so liebte und am liebsten nie loslassen würde. Großvater, der dasselbe mit Mutter getan hatte, und das liebevolle, respektvolle Band zwischen den beiden.
Und sie verstand. Oder zumindest hatte sie so etwas wie eine erste Ahnung, was all das womöglich bedeutete.
„Filipe, mein Lieber, du musst gehen.“, sagte sie zu ihrem langjährigen, treuen Freund, während sie ein paar Kekse in einen Sack gab und ihm so umschnürte, dass er bei Bedarf immer etwas zu knabbern haben würde. Den letzten Keks warf sie ans Ufer, wo sich das Rudel neugierig darum scharte. Filipe sprang mit einem Satz ebenso dorthin, wo er von den anderen mit aufgeregtem, aber durchaus liebenswürdigem Fiepen begrüßt wurde.
Beinahe wie von selbst bewegten sich ihre Lippen, und hinter sich hörte sie die grummelnde Stimme ihres Großvaters, wie er mit ihr die Segensworte sprach:

Mögest du frei sein wie mit Schwingen
Gebunden wie die Erde
Weich wie des Wassers sanfte Macht
Mögest du lieben mit all deinen Kräften
Empfangen mit all deinen Armen
Sehen mit all deinen Augen
Begreifend alles, was ist
Mögest du ruhen im Frieden eines Lächelns
Voller Staunen über das
Was die Welt dir hat bereitet
Mögest du leben, ich gebe dich frei
Mögen wir leben, einst eins, nun zwei
Diese Zeit, sie ist vorbei
Und ich gebe dich nun frei

„Ich wusste gar nicht, dass ich das kann!“, sagte Mira später zu ihrem Großvater, nachdem Filipe schon lange mit seinem Rudel im Wald verschwunden war. „Also den Text meine ich.“
„Der Text ist nicht von Bedeutung“, sagte ihr Großvater da. „Naja, also irgendwie schon. Ich habe ihn von meinem Vater übernommen, und der von dem seinen, und so weiter. Irgendwie ist er auch schön, der Text. Aber wenn die Worte von Herzen kommen, dann stimmen sie so oder so.“
Lange saßen sie so nebeneinander, während das Boot gemächlich weiter den Amazonas entlang glitt.
„Großvater?“, sagte Mira.
„Ja, Kind?“
„Ist das Liebe? Irgendwie ist die auch ganz schön traurig!“
Er sah sie eine Weile zärtlich an, dann drückte er sie fest an sich.
Auch, meine kleine Mira. Das ist sie auch. Und noch so viel mehr.“
Dann sah er sie erneut an.
„Wollen wir es nochmal sprechen? Für Filipe?“
„Für Filipe.“
Und sie sprachen den Segen nochmal. Und nochmal. Und jedes Mal fühlte es sich in Miras Herzen ein klitzekleines bisschen besser an, weil sie irgendwie spürte, dass die Worte ihren Weg zu Filipe finden und ihm ein kleines bisschen Liebe vorbeibringen würden.
„Worte sind irgendwie wie Brieftauben“, sagte sie, schon fast am Einschlafen. „Die bringen Post, über die man sich freut.“
Da musste Großvater erneut lächeln. Seine kleine, gute Mira. Sie hatte noch so viel vor sich, hatte noch so wenig gesehen und erfahren. Aber heute, heute hatte sie etwas Wichtiges verstanden, dass ihr auf ihrem weiteren Weg eine große Hilfe sein würde, egal wohin er auch führen würde.
„Die guten Worte schon, meine liebe Mira. Die guten schon.“

Etwa ein Jahr später gelangten sie zurück nach Venedig, wo Mutter schon sehnsüchtig im Hafen auf die beiden wartete. Mira war gewachsen, und hatte viel erlebt, aber nun freute sie sich doch schon wieder sehr auf ihre Mutter und etwas weniger Aufregung.
„Wollen wir Großvater noch verabschieden?“, war sie von Mutter gefragt worden.
„Natürlich!“

Und so hatten sie am Hafen gestanden, während das alte Boot den Hafen verließ. Einzelne Wörter mochten von dem abweichen, was Großvater einst Mutter gelehrt hatte. Aber darauf kam es nicht an, sondern darauf, dass sie von Herzen kamen, und auch Herzen fanden, die sie willkommen hießen.

Mögest du frei sein wie mit Schwingen
Gebunden wie die Erde
Weich wie des Wassers sanfte Macht
Mögest du lieben mit all deinen Kräften
Empfangen mit all deinen Armen
Sehen mit all deinen Augen
Begreifend alles, was ist
Mögest du ruhen im Frieden eines Lächelns
Voller Staunen über das
Was die Welt dir hat bereitet
Mögest du leben, ich gebe dich frei
Mögen wir leben, einst eins, nun zwei
Diese Zeit, sie ist vorbei
Und ich gebe dich nun frei

Und mit diesem Segen ist auch diese Geschichte nun vorbei.

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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