#113 Wachstumsschmerzen

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

„Das ist total übergriffig, was du da machst“, stand in der Nachricht zu lesen, die ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Was hatte er angeblich gemacht? „Energien gelenkt“? Gar auf „rücksichtslose“ Art und Weise? Er war sich gar nicht sicher gewesen, ob es so etwas wie unsichtbare Energien überhaupt gab, und nun sollte er auf diesem ungewissen Feld gar zum Bösewicht, zum Täter geworden sein?

Und doch, in den letzten Monaten und Jahren hatte er immer wieder festgestellt, dass es etwas zu geben schien, dass ihn zuweilen zu lenken vermochte, das seine Schritte, seine Aufmerksamkeit anzog, ansog in bestimmte Richtungen, bestimmte Bachläufe, Ströme des Seins. Es war eine Art von.. Sicherheit gewesen, ein unerklärliches Wissen der eigenen Unüberwindbarkeit im Verfolgen jener Wege. Der Fluss des Wassers mochte versickern, gestaut werden, Umwege verfolgen, doch die Schwerkraft ließ ihn mit der Zeit alles überwinden, jeden Widerstand wegwaschen, solange der Kontakt zur Quelle stetig neue Wasser brachte. Es war immer richtig gewesen, jenen Ahnungen zu folgen. Und nun dieser Vorwurf, der seine bisherigen Erfahrungen so dermaßen in Frage stellte.

Er war sich so sicher gewesen, in ihren Augen, ihren Bewegungen, ihrem ganzen Sein dieses Verlangen nach seinen Wassern spüren zu können, zarte Pflänzchen, Vorboten wunderbaren Wachstums. War er damals, an jenem verhängnisvollen Tag, etwa übergeschwappt aus den förderlichen Bahnen? Hatte er es an Geduld fehlen lassen, den oft so quälend langsamen Prozess abzuwarten, hatte er die zarten ersten Triebe ersäuft, weggeschwemmt mit seiner Ungeduld? War es ihm wirklich vorzuwerfen, noch kein erfahrener Gärtner der Seele zu sein, zudem er sich in einem für das Auge unsichtbarem Feld bewegte?

In seiner Verzweiflung war es ein leichtes gewesen, sich selbst von jeder Schuld freizusprechen. Was bildete sie sich überhaupt ein, ihn für ein Verbrechen auf einem Feld verurteilen zu wollen, das möglicherweise nicht einmal real existierte? Wollte er sich wirklich in Gefilde begeben, die ihm so völlig unbekannt und unkontrollierbar erschienen, dass er nicht mehr sicher war, seinen eigenen Urteilen vertrauen zu können? Warum die Episode nicht einfach als Fehler, als Irrung abschreiben, als verbrannte Erde? Sein Leben würde weitergehen. Ihr Leben würde weitergehen. Mit anderen Augen betrachtet war ja im Grunde auch gar nichts zwischen ihnen passiert. Kein Gericht der Welt würde ihn für „stümperhafte Energiearbeit“ verurteilen. Man konnte ja auch darüber lachen.

Und doch war da noch die schwer zu verstummende Stimme des Gewissens, und diese noch schwieriger zu ignorierende, stimmlose Intuition. Die ihn hinterfragen ließ, was er an jenem Abend tatsächlich angestellt haben könnte. Und die Antwort war schmerzhaft real: er hatte für einen Moment den Glauben an seine Intuition, an die Quelle seines inneren Stromes verloren und damit die Gelassenheit und Geduld, die ihr gesundes Wachstum von ihm abverlangte. Für einen Moment hatte er wohl Angst verspürt, ihre inneren Blockaden niemals überwinden zu können, und aus eigener Kraft versucht, den Prozess zu beschleunigen. Kein Wunder, dass sie sich zurückgezogen hatte. Sein Strom war versiegt, sobald er versucht hatte, zu kontrollieren und zu lenken, was ihn zu leiten bestimmt war.

Es war ein furchterregender, unsicherer Weg, der sich ihm da aufzeigte, ein Tasten im Dunkeln, ein Weg, der Vertrauen, der Glauben von ihm forderte. Ein schmerzhafter, schwer planbarer, oft so fürchterlich einsamer Weg des Wachsens, Lernens und Entwickelns. Ja, es gab die sicheren Varianten er erprobten und vielmals begangenen Wege, die Möglichkeit der Nachfolge, und wie sehr wünschte er sich oftmals, dass dieser Weg ihm offenstände. Doch sein Weg war ein anderer. Immerhin so viel hatte er mittlerweile verstanden.

Auch sie würde wachsen, würde ihrer Intuition folgen, würde wieder vertrauen, wieder glauben können an die Reinheit seiner Wasser, sobald er ihren Schmerz, ihre Verletzung, seine Grenzüberschreitung als solche bekannt, anerkannt hatte. Ihre Reaktion war extrem gewesen, im Nachhinein betrachtet auch übertrieben vielleicht, aber im Moment notwendig. Die Zeit würde das Übrige tun, ihren Glauben aneinander erneut zu stärken. Gelassenheit. Geduld. Vertrauen. Die Seele war ein Raum der unsichtbaren Entwicklung, ein Raum des Glaubens, der Hoffnung.

Tage-, Wochenlang war nichts geschehen, und er hatte die Hoffnung beinahe aufgegeben. Doch nun endlich sprießten die ersten kleinen Tomatenpflänzchen auf seinem Fensterbrett, und er freute sich täglich aufs Neue über ihre ungestüme Lebensfreude.

Er mochte nicht als Gärtner geboren oder geschult worden sein. Aber er würde lernen.

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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